Nächtliche Ausgangssperre für Kinder - UNICEF ordnet ein

Statement von UNICEF Schweiz und Liechtenstein anlässlich des Beschlusses der Berner Gemeinde Studen, ab 1. Juli eine Ausgangssperre für Kinder unter 14 Jahren in der Zeit zwischen 22 und 6 Uhr einzuführen.

Nächtliche Ausgangssperre
©UNICEF Schweiz und Liechtenstein/Chris Reist
  1.  Wie weit darf man die persönliche Freiheit von Kindern einschränken? 

    Die Schweizerische Bundesverfassung (BV) sieht in Artikel 10 vor, dass jeder Mensch das Recht auf Leben und persönliche Freiheit hat. Absatz 2 besagt, dass darunter auch die Bewegungsfreiheit fällt. Die in der BV verankerten Grundrechte gelten für alle, somit auch für Kinder.
    Jede Einschränkung dieser Freiheitsrechte ist ein Vorenthalt der persönlichen Freiheit. Eine Sperrstunde ist also ein temporärer Freiheitsentzug, nämlich für den geltenden Zeitraum.
    Die persönliche Freiheit von Kindern, hört, wie auch diejenige von Erwachsenen, auf, wenn sie die Rechte anderer einschränkt. Sie kann begrenzt werden, wenn dies dem öffentlichen Schutz oder der allgemeinen Sicherheit dient. Sie muss jedoch in jedem Fall gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Dies war beispielsweise während der Covid-Pandemie der Fall, war aber für die gesamte Bevölkerung gleichermassen gültig und auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Im vorliegenden Fall wird aber eine Unterscheidung gemacht, nämlich zwischen Kindern und Erwachsenen.
     
  2. Was bedeutet die Sperrstunde für die Kinder? 

    Die Sperrstunde stellt eindeutig eine Kinderrechtsverletzung dar. Denn: Kinderrechte gelten bedingungslos und jederzeit für alle Kinder zwischen 0-18 Jahren. 
    Die Sperrstunde sieht vor, dass sich unter 14-jährige zwischen 22 und 6 Uhr nicht ohne aufsichtsberechtigte Person im öffentlichen Raum bewegen dürfen. Es wird argumentiert, dass die Massnahme präventiv wirke und dem Schutz der Kinder diene. Man argumentiert also mit einer positiven Wirkung für die Kinder selbst und vernachlässigt die Kinderrechte sowie die Effekte ohne Ausgangssperre, wie beispielsweise des autonomen Unterwegsseins.
    Ausserdem stellt man mit einem solchen Entscheid alle Kinder unter einen Generalverdacht, nämlich, dass sie die Allgemeinheit und das Zusammenleben stören. Das sendet ein sehr starkes und negatives Signal an Kinder.
     
  3. Werden die Kinderrechte durch diese Entscheidung nicht respektiert?

    Die in der UN Konvention über die Rechte des Kindes garantierten Rechte werden durch die Sperrstunde eingeschränkt bzw. missachtet. Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention 1997 ratifiziert und sich somit zur Umsetzung der Kinderrechte verpflichtet. Entsprechend ist der Bund in der Verantwortung, im Sinne von Art. 4 der Konvention (Verwirklichung der Kinderrechte), gegen die Sperrstunde vorzugehen, da sie die Rechte der Kinder sowie die Grundrechte (Art. 10 BV) verletzen.

    Betroffen sind 
    •    Art. 2: Nicht-Diskriminierung
    Kinder werden gegenüber anderen Altersgruppen benachteiligt, da nicht die gleichen Regeln für alle gelten
    •    Art.3: Übergeordnetes Kindesinteresse
    Dieser Grundsatz wird missachtet, indem die Interessen von einzelnen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich gewichtet werden.
    •    Art. 12: Miteinbezug von Kindern bei Angelegenheiten, die sie betreffen
    Ein präventiver Ansatz ist durchaus sinnvoll, allerdings wäre es wünschenswert, Kinder in Lösungsfindungsprozesse einzubeziehen und mit der Zielgruppe in den Dialog zu treten. Eine verstärkte Zusammenarbeit verschiedener Akteur/-innen aus der Gemeinde, der Polizei, der Kinder- und Jugendarbeit, Schulen, Nachbarschaftsorganisationen, Elternverbänden etc. wäre anzustreben. Der Dialog mit den Kindern selbst führt unter Umständen zu anderen Massnahmen, die besser akzeptiert werden und mit der Kinderrechtskonvention und der BV vereinbar sind.
    •    Art. 15: Versammlungsfreiheit
    Dieses Recht wird temporär eingeschränkt und scheint im vorliegenden Fall ein nicht verhältnismässiger Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte zu sein.
    •    Art. 31: Erholung, Spiel, Kultur, Kunst
    Diese Rechte werden temporär eingeschränkt und machen keine Unterscheidung, bspw. an Wochenenden oder in den Ferien, wenn Kinder oftmals auch einmal länger draussen spielen dürfen.
     
  4. Kennen Sie ähnliche Beispiele wie die Sperrstunde der Gemeinde Studen?

    Im Rahmen der UNICEF Initiative «Kinderfreundliche Gemeinde» macht UNICEF Schweiz und Liechtenstein die Erfahrung, dass Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum weit verbreitet sind. Dies endet nicht selten im Aufstellen von Verbotstafeln auf öffentlichem Grund, was sich gerade während der Covid-Pandemie zugespitzt hatte. Eine Herausforderung auf kommunaler Ebene ist auch, dass gerade für Kinder und Jugendliche oftmals Treffpunkte fehlen. Problemtisch ist es auch dann, wenn zentrale Plätze privaten Eigentümer/-innen gehören und Regeln aufgestellt werden, dass sich Kinder dort nicht aufhalten dürfen.

    Darüber hinaus sehen wir immer wieder, dass Orte und Treffpunkte gar nicht oder nur eingeschränkt für Kinder zugänglich sind. Bspw. auch Spiel- und Pausenplätze, welche ausserhalb der Schulzeiten nicht genutzt werden dürfen. 
     
  5. Welche Alternativen gibt es zur Sperrstunde?

    Oftmals werden Kinder und Jugendliche auf kommunaler Ebene mit Vandalismus, Lärm, Verschmutzung usw. in Verbindung gebracht. Präventive Massnahmen sollten auf Dialog und Sensibilisierung setzen. Beispielsweise können Gemeinden aktiv das Gespräch mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen suchen, Empfehlungen und Richtlinien gemeinsam erarbeiten und stärker mit der lokalen Kinder- und Jugendarbeit zusammenarbeiten, beispielsweise in Form von aufsuchender Arbeit. Oder, falls noch nicht vorhanden, überhaupt eine Kinder- und Jugendarbeit einzuführen. Auch ist es wichtig, den Kindern und Jugendlichen Orte zum Verweilen und sich Treffen zur Verfügung zu stellen, die sie sich autonom aneignen und gestalten können.
    Kommt es dennoch zu Konflikten oder Vandalismus im öffentlichen Raum, so müssen diese Einzelfälle individuell überprüft und gewichtet werden. Eine kollektive Bestrafung aller Kinder und Jugendlichen ist nicht verhältnismässig.