Erklärung der UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell vor dem Sicherheitsrat zur humanitären Lage in der Demokratischen Republik Kongo.
«Die Gewalt im Osten des Landes hat ein erschreckendes Ausmass erreicht – schlimmer als in den letzten drei Jahrzehnten. Millionen Kinder sind in Gefahr. Die Lage zählt zu den schwersten humanitären Krisen der Welt.
Seit Januar mussten über eine Million Menschen fliehen. Schätzungsweise 400 000 davon sind Kinder. Diese neue Fluchtbewegung kommt zu den mehr als fünf Millionen Menschen hinzu, die bereits in überfüllten Vertriebenenlagern leben. Die hygienischen Bedingungen dort fördern die Ausbreitung von Krankheiten wie Mpox, Cholera und Masern.
Ein besonders erschreckendes Merkmal dieses Konflikts ist die brutale Gewalt gegen Kinder und Frauen. Viele wurden getötet oder verletzt. Im Vergleich zum ersten Quartal 2024 hat sich die Zahl schwerer Kinderrechtsverletzungen in diesem Jahr verdoppelt. Dazu gehören wahllose Angriffe, der massenhafte Einsatz von Kindersoldaten, Entführungen sowie sexuelle Gewalt.
Der Anteil von Kindern unter den Opfern sexualisierter Gewalt ist besonders alarmierend.
In nur zwei Monaten – Januar und Februar – machten Kinder über 40 Prozent der fast 10 000 gemeldeten Fälle aus. UNICEF schätzt, dass während der intensivsten Phase der Kämpfe alle 30 Minuten ein Kind vergewaltigt wurde.
Das zeigt: Sexualisierte Gewalt wird systematisch als Waffe im Krieg eingesetzt. Sie zerstört Leben, Familien und ganze Gemeinschaften. Und das sind nur die bekannten Fälle. Die Dunkelziffer ist deutlich höher – viele Betroffene schweigen aus Angst, Scham oder fehlender Sicherheit. Diese Realität muss uns alle zu entschiedenem Handeln bewegen.
Auch Entführungen von Kindern haben stark zugenommen – sechsmal mehr Fälle zwischen Dezember und Februar. Zusätzlich gibt es Berichte über Morde, Verstümmelungen und Drohungen gegenüber Strassenkindern durch bewaffnete Gruppen.
Wiederholte Fluchtbewegungen und unterbrochene Gesundheitsdienste begünstigen die Ausbreitung von Krankheiten. Kleinkinder unter fünf Jahren sind besonders gefährdet – viele leiden ohnehin an Mangelernährung.
Die DR Kongo bleibt zudem das Zentrum eines neuen Mpox-Ausbruchs. Doch der Konflikt erschwert die Eindämmung massiv. In Goma mussten die meisten der 143 isolierten Patientinnen und Patienten fliehen. So ist ihre Behandlung kaum noch möglich – die Ansteckungsgefahr steigt, auch über Landesgrenzen hinaus. Krankenhäuser sind überlastet, medizinische Vorräte gehen zur Neige. Dazu gehören auch sogenannte PEP-Kits, die für Vergewaltigungsopfer lebenswichtig sind, um sich vor HIV und anderen Infektionen zu schützen.
Mehr als 2500 Schulen mussten seit Jahresbeginn schliessen – auch viele in den Vertriebenenlagern. Kinder verlieren damit nicht nur Bildung, sondern auch Schutz vor Gewalt und Rekrutierung. Gleichzeitig sind Schulen oft die einzigen Orte, an denen traumatisierte Kinder Hilfe erhalten können.
Die Lage wird zusätzlich erschwert durch die unsichere Versorgungslage. Hilfsgüter und Helferinnen kommen oft nicht durch. Angriffe und gezielte Falschinformationen verschärfen das Problem. Seit Januar wurden mindestens elf humanitäre Helferinnen und Helfer getötet.
Lagerhäuser wurden geplündert – auch die beiden Mpox-Zentren in Goma und ein UNICEF-Lager in Bukavu. Nach dem Abzug von MONUSCO fehlen viele der bisher gesicherten Wege – etwa Strassen oder Landebahnen – um abgelegene Orte zu erreichen.
Trotz alledem bleibt UNICEF vor Ort. Unsere Teams und Partner sind in Goma und Bukavu geblieben, selbst während der schwersten Kämpfe. UNICEF versorgt Menschen in Not mit lebenswichtiger Hilfe – in Notunterkünften, Aufnahmegemeinden und in den Herkunftsregionen. Dazu gehören Trinkwassertransporte, die Reparatur von Wasserleitungen, Chlorierungsstellen am Kivusee und Hygienepakete. Wir erreichen täglich über 700 000 Menschen mit sauberem Wasser. Zudem liefern wir Medikamente und PEP-Kits. Wir helfen Überlebenden sexualisierter Gewalt und unterstützen Kinder mit psychosozialer Hilfe. Allein gelassene oder getrennte Kinder werden registriert und versorgt, um sie mit ihren Familien wieder zu vereinen.
Doch all das reicht nicht aus. Die humanitäre Hilfe ist stark unterfinanziert. 2024 hat UNICEF nur 20 Prozent der benötigten Mittel erhalten. Millionen Menschen haben dadurch keinen Zugang zu lebensrettender Hilfe. UNICEF hat deshalb einen dringenden Appell gestartet: Wir brauchen 57 Millionen US-Dollar, um in den kommenden drei Monaten Kindern in Ostkongo helfen zu können.
Wenn wir nicht handeln, wird diese Krise weiter eskalieren. Hunderttausende Kinder werden keine Hilfe gegen Mangelernährung erhalten. Sie bekommen keine Impfungen, keine Medikamente, kein sauberes Wasser und keine psychosoziale Unterstützung.
UNICEF schliesst sich dem Aufruf für einen sofortigen Waffenstillstand an. Die Sicherheitsratsresolution 2773 muss umgesetzt werden – sie fordert Deeskalation, Dialog und Schutz der Zivilbevölkerung, besonders der Kinder. Alle Konfliktparteien – und diejenigen, die Einfluss auf sie haben – müssen sich für den Frieden einsetzen. Sie sind ausserdem verpflichtet, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zu achten.
Wer Kinder rekrutiert, sexualisierte Gewalt verübt oder Zivilpersonen angreift, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Straffreiheit darf nicht akzeptiert werden.
UNICEF fordert vom Sicherheitsrat drei zentrale Massnahmen: Erstens den Schutz von Kindern und ziviler Infrastruktur durch alle Konfliktparteien. Zweitens den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe und geöffnete Grenzen für Geflüchtete und Hilfsgüter. Drittens humanitäre Pausen in den Kämpfen sowie sichere und würdevolle Rückkehrmöglichkeiten für Vertriebene.
Die Lage im Osten der DR Kongo ist dramatisch. Doch sie ist nicht hoffnungslos. Mit einer starken, gemeinsamen humanitären Antwort können wir helfen – und Wege zum Frieden aufzeigen. Die Kinder der DR Kongo verdienen nichts weniger. Wenn wir nicht handeln, ist eine ganze Generation von Angst und Gewalt geprägt. Aber wenn wir uns gemeinsam für Frieden, Schutz und Gerechtigkeit einsetzen, geben wir den Kindern etwas viel Wertvolleres: Hoffnung.»