Das Recht auf Familie darf nicht eingeschränkt werden

Ein Statement von UNICEF Schweiz und Liechtenstein zum Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene in der Schweiz. Eine Einschränkung oder ein Verbot ist mit der Kinderrechtskonvention, weiteren Menschenrechtsverträgen und der internationalen Rechtsprechung nicht vereinbar. 

Ein Mann streckt seine Hand an die Scheibe eines Zuges, das Kind und seine Mutter in dem Zug drücken ihre Hand zum Abschied von Innen auf das Glas.

In der Herbstsession 2024 wurde die Motion «Kein Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene» (Geschäft 24.3057) im Nationalrat angenommen. Sie fordert die Abschaffung des Rechts auf Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene. Der Ständerat hat diese und eine gleichnamige Motion (Geschäft 24.3511) im Anschluss an die zuständige Kommission zur Beratung zugewiesen. Über die beiden Motionen soll in der Wintersession 2024 im Ständerat abgestimmt werden. 

Vorläufig Aufgenommene sind Personen, deren Asylgesuch abgewiesen wurde, die aber nicht aus der Schweiz weggewiesen werden dürfen, weil dies unzulässig, unzumutbar oder unmöglich ist. Beispielsweise dürfen geflüchtete Personen nicht in einen Staat ausgeliefert werden, in dem sie an Leib und Leben bedroht wären – z.B. weil dort Bürgerkrieg herrscht. Vorläufig Aufgenommene haben in der Schweiz das Recht – unter bestimmten Bedingungen und nach einer Wartefrist von drei Jahren – Familienmitglieder wie Ehegatten und ledige Kinder nachzuziehen (AIG, Art. 85c). Die vorliegenden Motionen möchten dieses Recht auf Familiennachzug abschaffen.

Familiennachzug ist in der Kinderrechtskonvention verankert 

Eine Einschränkung oder ein Verbot des Familiennachzugs für vorläufig Aufgenommene ist nicht im Interesse der Kinderrechte. Vertragsstaaten der Kinderrechtskonvention verpflichten sich mit der Ratifizierung dazu, Anträge auf Familienzusammenführungen «wohlwollend, human und beschleunigt» zu bearbeiten (Art. 10). Darüber hinaus statuiert die Kinderrechtskonvention, dass bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, das übergeordnete Interesse des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist (Art. 3). Dieses muss gemäss UN-Kinderrechtsausschuss berücksichtigt werden, wenn Kinder aufgrund von Migration von ihren Eltern getrennt sind (Allgemeine Bemerkungen Nr. 6 & 14), was bei einem Verbot des Familiennachzugs verunmöglicht wird.  

Das Recht auf Familie ist völkerrechtlich anerkannt 

Eine Einschränkung oder ein Verbot des Familiennachzugs für vorläufig Aufgenommen widerspricht verschiedenen von der Schweiz ratifizierten Menschenrechtsverträgen. Das Recht auf Familienleben und auf dessen Schutz und Einheit ist völkerrechtlich anerkannt (KRK Art. 9; UNO-Pakt I Art. 10; UNO-Pakt II Art. 23; EMRK Art. 8). Aus kinderrechtlicher Sicht ist die Familie für die kindliche Entwicklung zentral, weshalb Staaten verpflichtet sind, sicherzustellen, dass Kinder nicht gegen ihren Willen von ihren Eltern getrennt sind (KRK, Art. 9). 

Ein Verbot geht in die falsche Richtung 

Staaten steht völkerrechtlich bei der Ausgestaltung des Familiennachzugs zwar ein gewisser Ermessensspielraum zu. Ein Verbot des Familiennachzugs wäre jedoch unverhältnismässig, aus kinderrechtlicher Sicht problematisch und ein Schritt in die falsche Richtung: So empfiehlt der UN-Kinderrechtsausschuss der Schweiz in seinen Abschliessenden Bemerkungen zum Staatenberichtsverfahren 2021, die dreijährige Wartefrist für den Familiennachzug bei vorläufig Aufgenommenen zu überdenken. Darüber hinaus hat der EGMR in einem Grundsatzurteil 2021 festgelegt, dass dreijährige Wartefristen nicht mit Art. 8 der EMRK vereinbar sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses Urteil bestätigt. Eine entsprechende Überprüfung des Ausländer- und Integrationsgesetzes ist im Gange.

Empfehlung an den Ständerat 

Die Forderung der beiden Motionen «Kein Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene» ist nicht im Sinne der Kinderrechte, widerspricht völkerrechtlichen Bestimmungen und geht gesetzgeberisch in die falsche Richtung. Aus diesen Gründen empfiehlt UNICEF Schweiz und Liechtenstein den Mitgliedern des Ständerats, beide Motionen abzulehnen.