Die Rede, die UNICEF Nothilfe-Direktor Manuel Fontaine am 11. April 2022 vor dem UNO-Sicherheitsrat zur Situation in der Ukraine gehalten hat, ist um die Welt gegangen. Dies ist eine gekürzte Fassung.
«Ich bin letzte Woche von einem Einsatz in der Ukraine zurückgekehrt. Einunddreissig Jahre arbeite ich nun bereits in der humanitären Hilfe – doch noch nie wurde ich Zeuge von solch massiver Zerstörung, die in einer so kurzen Zeit verursacht worden ist.
Der Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk am letzten Freitag war besonders entsetzlich. Der Bahnhof war ein wichtiger Transportweg für Tausende von Familien, die aus der Oblast Donezk geflohen sind. Als der Bahnhof angegriffen wurde, war er voll mit Familien, die verzweifelt versuchten, den kriegerischen Handlungen zu entkommen. Es ist eine tragische Ironie, dass unsere Teams bloss einen Kilometer entfernt lebensrettende Hilfsgüter verteilten, während gleichzeitig so viele Menschen durch diesen unnötigen Akt der Gewalt getötet wurden.
Der Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk war skrupellos. Und doch ist er nur einer von vielen Vorfällen in diesem Krieg, in denen das Leben von Zivilisten – und das humanitäre Völkerrecht – eklatant missachtet wurden.
In der Ukraine werden Kinder, Familien und Gemeinden angegriffen.
Von den schätzungsweise 3,2 Millionen Kindern, die in ihren Häusern geblieben sind, könnten bald die Hälfte nicht mehr genug zu essen haben. Durch Angriffe auf die Wasserversorgung und Stromausfälle haben schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen in der Ukraine keinen Zugang zu Wasser. Weitere 4,6 Millionen Menschen haben bloss begrenzten Zugang.
Bis gestern hat das OHCHR 142 getötete und 229 verletzte Kinder bestätigt. Wir wissen, dass diese Zahlen wahrscheinlich viel höher sind.
Ich habe eines dieser Kinder auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Saporischschja besucht. Dem vierjährigen Vlad wurde zweimal in den Bauch geschossen, als er mit seiner Familie aus einem umkämpften Gebiet floh. Obwohl er noch immer bewusstlos ist, wird Vlad voraussichtlich überleben – im Gegensatz zu vielen anderen Kindern.
Lebenswichtige Infrastruktur für Kinder wird auch angegriffen.
Bei den Kämpfen wurden bereits hunderte von Wohnhäusern beschädigt oder zerstört. Angriffe auf Krankenhäuser, Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal erschweren den Zugang zur medizinischen Not- und Grundversorgung.
Hunderte von Schulen und Bildungseinrichtungen wurden angegriffen oder für militärische Zwecke genutzt. Andere dienen als Notunterkünfte für Zivilisten. Die landesweiten Schulschliessungen haben Auswirkungen auf die Bildung – und die Zukunft – von 5,7 Millionen Kindern im schulpflichtigen Alter und 1,5 Millionen Studenten in höheren Bildungseinrichtungen.
In nur sechs Wochen sind fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder vertrieben worden.
Sie waren gezwungen, alles zurückzulassen: Ihre Häuser, ihre Schulen und oft auch ihre Familienangehörigen. Unbegleitete Minderjährige sind einem viel höheren Risiko von Gewalt, Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel ausgesetzt.
Wir helfen den örtlichen Behörden unteranderem dabei, unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kinder zu identifizieren und zu registrieren. In der Ukraine arbeiten wir jedoch weiterhin unter extrem schwierigen Bedingungen. In den letzten Wochen konnten wir einige Fortschritte verzeichnen, da unsere Teams und Hilfsgüter unter anderem Sumy, Kharkiv und Kramatorsk erreichen konnten. Aber das ist nicht genug.
Die andauernden Feindseligkeiten hindern uns daran, die Bedürftigsten in vielen Gebieten des Landes zu erreichen.
Ich bin besonders besorgt über die grosse Anzahl von explosiven Kriegsmunitionsrückständen, welche für Kinder lebensgefährlich sein können. Die Ostukraine war bereits vor der jüngsten Eskalation einer der am stärksten mit Minen verseuchten Regionen der Welt. Diese Realität weitet sich rasch auf andere Teile des Landes aus.
Wir beobachten die Entwicklungen rund um die Gesundheit und Rechte von Frauen und Mädchen, da das Risiko von Ausbeutung und Missbrauch stetig wächst. Und wir betonen erneut, dass Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden oder in Heimen leben, geschützt werden müssen. Alle Anstrengungen müssen unternommen werden, um die Zustimmung von Betreuern und Behörden einzuholen, bevor Kinder evakuiert oder umgesiedelt werden.
Ich möchte diejenigen, die die Macht haben, diesen Krieg zu beenden, auffordern, diese Macht zu nutzen.
Denn mit jedem weiteren Kriegstag, werden mehr Kinder leiden. Die Kinder der Ukraine können nicht länger warten.»