Ukraine: Eine Generation von Kindern am Rande des Abgrunds

Jürg Keim
Jürg Keim

Ein Jahr nach der Eskalation des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat eine Generation von Kindern 12 Monate lang Gewalt, Angst, Verlust und Tragödien erlebt. Kinder wurden getötet, verletzt oder haben ihre Eltern oder Geschwister verloren. Sie wurden aus ihren Häusern vertrieben und verpassten Bildungsmöglichkeiten. Und sie konnten nicht in einer sicheren Umgebung aufwachsen. UNICEF unterstützt die betroffenen Kinder und ihre Familie und fordert das Ende des Krieges.

1 Jahr Ukraine Kind
© UNICEF/UN0780457/Filippov

«Die Kinder in der Ukraine haben ein Jahr des Grauens erlebt», sagte UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell. «Es gibt keinen einzigen Aspekt im Leben der Kinder, den der Konflikt nicht beeinflusst hat. Kinder wurden getötet und verletzt, und viele haben Eltern und Geschwister, ihr Zuhause, ihre Schulen und Spielplätze verloren. Millionen von Kindern gehen verängstigt schlafen und wachen in der Hoffnung auf ein Ende dieses brutalen Krieges auf. Kein Kind sollte jemals diese Art von Leid ertragen müssen».

Der Anteil der Kinder, die in Armut leben, hat sich fast verdoppelt

Der Krieg in der Ukraine hat eine Wirtschafts- und Energiekrise verursacht und sich verheerend auf das Wohlergehen von Kindern und Familien in der Ukraine ausgewirkt. In einer kürzlich durchgeführten UNICEF-Umfrage gaben 80 Prozent der Befragten an, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verschlechtert hat. Der Anteil der in Armut lebenden Kinder hat sich zudem laut UNICEF-Analyse von 43 Prozent auf 82 Prozent fast verdoppelt. Besonders akut ist die Lage für die 5,9 Millionen Menschen, die aktuell innerhalb der Ukraine vertrieben werden.

Der Krieg hat auch verheerenden Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der Kinder. Schätzungsweise 1,5 Millionen Kinder sind von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Problemen bedroht, die langfristige Auswirkungen haben können.

Der Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen ist für Kinder und Familien massiv beeinträchtigt worden. Mehr als 1 000 Gesundheitseinrichtungen wurden Berichten zufolge durch Beschuss und Luftangriffe beschädigt oder zerstört. Bei solchen Angriffen kamen auch Patienten – darunter auch Kinder – sowie medizinisches Personal ums Leben oder wurden schwer verletzt. Tausenden von geflüchteten Kindern fehlen darüber hinaus lebenswichtige Impfstoffe, die sie vor Polio, Masern, Diphtherie und anderen lebensbedrohlichen Krankheiten schützen.

Verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern

Seit dem 24. Februar 2022 hat UNICEF dank der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft 770 000 Kinder mit Lernmaterial versorgt und 1,4 Millionen Kinder an formaler und nicht-formaler Bildung teilhaben lassen. Ausserdem wurden 2,9 Millionen Kinder und Pflegekräfte psychisch betreut und 352 000 Frauen und Kinder bei geschlechtsspezifischer Gewalt unterstützt. 4,6 Millionen Menschen wurde der Zugang zu sauberem Wasser verschafft, 4,9 Millionen Menschen erhielten medizinische Versorgung und 1,4 Millionen Menschen in der Ukraine und 47 494 Haushalten in den Nachbarländern wurde Bargeld zur Verfügung gestellt.

«Kinder brauchen ein Ende des Krieges und einen dauerhaften Frieden, damit sie ihre Kindheit zurückgewinnen, zur Normalität zurückkehren und mit der Heilung und Genesung beginnen können», sagte Catherine Russell. «Bis es soweit ist, müssen die psychische Gesundheit und die psychosozialen Bedürfnisse der Kinder unbedingt im Vordergrund stehen. Dazu sollten altersgerechte Massnahmen gehören, die die Widerstandsfähigkeit stärken und insbesondere älteren Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, ihre Sorgen zu äussern.» 

Erschwerend kommt hinzu, dass der Krieg die Bildung von mehr als fünf Millionen Kindern unterbrochen hat. Das Gefühl von Struktur, Sicherheit, Normalität und Hoffnung, was normalerweise ein Klassenzimmer Kindern gewährt, bleibt ihnen verwehrt. Der eingeschränkte Zugang zu Schulen folgt auf zwei Jahre Lernausfall aufgrund der Covid-19-Pandemie und mehr als acht Jahre Bildungsunterbruch für Kinder in der Ostukraine. 


Zu Normalität und Sicherheit in der Schule zurückzukehren ist eine Priorität

UNICEF fordert einen dauerhaften, sicheren, schnellen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe und ein Ende der Angriffe auf Kinder und die Infrastruktur, auf die sie angewiesen sind, einschliesslich Schulen, Krankenhäuser und Wasser- und Abwassersysteme. UNICEF fordert zudem keine weiteren Schulen mehr zu zerstören und den Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten zu vermeiden, die direkt für die Tötung und Verstümmelung von Hunderten von Kindern verantwortlich sind. Vor allem aber setzt sich UNICEF weiterhin für ein Ende der Feindseligkeiten ein.

Im Dezember 2022 hat UNICEF seinen jährlichen Aufruf zur humanitären Hilfe für Kinder veröffentlicht. UNICEF benötigt 1,1 Milliarden US-Dollar, um die unmittelbaren und längerfristigen Bedürfnisse von 9,4 Millionen Menschen, darunter 4 Millionen Kinder, innerhalb und ausserhalb der Ukraine zu decken, die nach wie vor unter den Folgen des Krieges in der Ukraine leiden. Die Finanzierung wird UNICEF in die Lage versetzen, neben den Hilfs- und Wiederaufbaubemühungen der Regierung wichtige Dienste in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Kinderschutz, geschlechtsspezifische Gewalt, Wasser und Sanitärversorgung sowie Sozialschutz bereitzustellen, aufrechtzuerhalten und zu erweitern. UNICEF wird auch sicherstellen, dass auf weitere Binnenvertreibungen und Flüchtlingsbewegungen rechtzeitig Vorbereitungen getroffen werden.