Nach zwölf Jahren Krieg liegt Syrien in grossen Teilen in Trümmern. Immer wieder eskaliert die Gewalt im Land, und ein Ende des Bürgerkriegs ist nicht in Sicht. Die Kinder leiden am meisten. Tausende Mädchen und Buben wurden im Laufe des Krieges bei Angriffen getötet und noch viele mehr verletzt. Wie auch Azzam, dessen Geschichte wir hier erzählen möchten.
Awad und seine Familie haben die erschütternden Auswirkungen des Konflikts im wahrsten Sinne am eigenen Leib erfahren. Im Jahr 2015 schlug eine Granate in das Gebäude ein, in dem sich der damals 35-jährige Awad mit zwei seinen Kindern Azzam, 5 und Rakan, 4, aufhielten. Seine Frau Manal eilte herbei, um zu sehen, was passiert war. «Ich rannte wie verrückt und sah, dass meine kleine Rakan gestorben war. Mein Mann war noch bei Bewusstsein, aber schwer verletzt. Und Azzam kam blutüberströmt und staubbedeckt unter den Trümmern hervor. Es war ein Albtraum», erzählte sie. Manal trug ihren Sohn, um rasch Hilfe zu holen, als sie plötzlich bemerkte, dass etwas fehlte. Der Bub hatte ein Bein verloren. Azzam und sein Vater wurden in ein Krankenhaus gebracht. Der tragische Vorfall führte zu einer Lähmung des rechten Beins des Vaters, und beim 5-jährigen Jungen folgten mehrere Operationen. «Azzam fühlte sich nach dem Vorfall lange Zeit nicht sicher. Er weinte, wenn er einen Blutstropfen sah oder ein lautes Geräusch hörte», sagte Manal.
Azzam teilt sein Schicksal mit Tausenden anderen syrischen Kindern, die während der vergangenen zwölf Jahren vergleichbares Leid in ihrem jungen Leben erfahren mussten. Seit Kriegsausbruch im Jahr 2011 wurden mindestens 13 000 Kinder in Syrien durch den schonungslosen Krieg getötet oder schwer verletzt. Dabei sind Landminen und explosive Überreste des Krieges die Hauptursachen für die Todesfälle oder schweren Verletzungen von Kindern. Schätzungsweise jede dritte Ortschaft in Syrien ist durch explosive Rückstände kontaminiert. Viele Mädchen und Buben tragen hierdurch lebenslange Behinderungen davon. Die Sensibilisierung der Bevölkerung über diese Gefahren ist deshalb zentral. Aktuell benötigen sechs Millionen Kinder Kinderschutzdienste. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat in Syrien allein seit 2021 über 1,1 Millionen Kinder und mehr als 200 000 Eltern und Betreuungspersonen über die Gefahren von Sprengstoffen aufgeklärt. Zudem erhielten 11 350 Kinder mit schweren, körperlichen Behinderungen durch ein Sozialschutzprogramm eine regelmässige vierteljährliche Bargeldunterstützung von UNICEF.
Es stand nicht gut um Azzams psychischer Verfassung nach diesem schrecklichen Ereignis. Um ihn, aber auch seine Geschwister, bestmöglich zu unterstützen und ein Gefühl der Normalität wiederzuerlangen, meldeten ihn seine Eltern kurz nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt Nashabieh in Ost-Ghouta, in der Schule an. «Doch Azzam hatte Schwierigkeiten, jeden Tag zur Schule zu gehen. Die handgefertigten Holzstöcke, die er anstelle echter Krücken benutzte, boten ihm keine gute Hilfe», so Manal. «Also brach er die Schule ab».
Aktuell gehen in Syrien schätzungsweise 2,4 Millionen Kinder nicht zur Schule. Bei 1,6 Millionen Kindern besteht die Gefahr, dass sie diese abbrechen. Gründe dafür sind mannigfaltig: 90% der Familien in Syrien leben in Armut, was mitunter zu einem drastischen Anstieg von Frühehen geführt hat. Darüber hinaus sind beschädigte und zerstörte Schulen oder überfüllte Klassenzimmer weitere Ursachen für einen Schulabbruch, ebenso wie ein mangelndes Angebot an Lehrbüchern, Schreibwaren und Lernmitteln sowie eine unzureichende Lehrerausbildung. Auch sind immer mehr Lehrer gezwungen, ihren Beruf aufzugeben, da ihre Gehälter nicht mehr ausreichen, um die Grundbedürfnisse ihrer Familien zu decken.
Hinzukommend sind auch die Ausgaben für Bildung massiv zurückgegangen: Die von der syrischen Regierung für Bildung bereitgestellten Mittel sind im Vergleich zu 2011 real um 78 Prozent gesunken. Allein zwischen 2021 und 2022 wurden die Mittel um 15 Prozent gekürzt. Die Konsequenz: nur zwei Drittel aller Schulen in Syrien können Unterricht ohne Einschränkungen gewährleisten. Schliesslich tragen die rund 3 Millionen durch den Bürgerkrieg intern vertriebenen Kinder dazu bei, dass etwa 2,4 Millionen Kinder keine Schule besuchen. UNICEF unterstützte im vergangenen Jahr über 1,6 Millionen Kinder mit Lernmöglichkeiten, darunter über 12 000 Kinder mit Behinderungen.
Knapp viere Jahre nach dem schicksalshaften Ereignis ging es im Jahr 2019 für Azzam wieder aufwärts. Er besuchte die Al-Nashabieh Al-Mohdatheh-Grundschule, eine von UNICEF sanierte und ausgestattete Schule, um die Inklusion von Kindern mit Behinderungen zu fördern. Azzam und seine Schwestern Sidra und Nour haben seither keinen einzigen Schultag versäumt. «Ich bin froh, dass ich zur Schule gehen, mit meinen Freunden Spass haben und lernen kann», bestätigt Azzam.
Für 2023 verfolgt UNICEF das Ziel, 2,25 Millionen Kinder in Syrien mit Lernmaterial auszustatten und mit formeller Bildung zu erreichen. Ausserdem sollen rund eine halbe Millionen Kinder von nicht formeller Bildung profitieren können. Das bedeutet, dass Letztere individuelle ausserhalb der strukturierten und reglementierten Lehrgänge etwa beim Sport, bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, in Projekten soziale und lebensbezogene Fähigkeiten erlernen. 44 000 Lehrer und pädagogisches Fachpersonal soll in diesem Jahr durch UNICEF geschult werden.