Erklärung des UNICEF-Regionaldirektors für den Nahen Osten und Nordafrika, Edouard Beigbeder.
«Heute habe ich meinen Besuch in Damaskus, Homs, Hama, Aleppo und Idlib abgeschlossen und bin tief betroffen von der katastrophalen Lage der syrischen Kinder. Nach 14 Jahren Krieg kennen Millionen von Kindern nichts anderes als Konflikte, die sie zwingen, viel zu schnell erwachsen zu werden. Dennoch gibt es Hoffnung und die Chance auf eine bessere Zukunft.
UNICEF ist weiterhin vor Ort, um lebensrettende Hilfe zu leisten und syrische Familien auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft zu unterstützen. Ein glaubwürdiger und inklusiver politischer Übergang muss den Rechten der zehn Millionen Kinder in Syrien oberste Priorität einräumen.
Die Dimension der Notlage, die ich während meiner Reise durch Syrien gesehen habe, ist erschütternd: 7,5 Millionen Kinder benötigen humanitäre Hilfe. 6,4 Millionen Kinder brauchen dringend Schutz vor Unsicherheit und wirtschaftlicher Not, die Kinderrechte bedrohen und Angst und Leid verstärken. Zusätzlich steigen die Preise für Treibstoff, Nahrung und grundlegende Güter weiter an – Familien laufen Gefahr, noch tiefer in extreme Armut abzurutschen. Das Land benötigt deshalb ein gross angelegtes Sozialschutzprogramm, um besonders die vulnerabelsten Kinder und ihre Familien zu schützen.
Die Herausforderungen, vor denen die Betroffenen stehen, werden durch den jahrelangen Konflikt noch verschärft. Mehr als 2,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und eine weitere Million sind von Schulabbrüchen bedroht. Dies erhöht das Risiko von Kinderarbeit, Kinderheirat, Menschenhandel sowie der Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen. Bildung ist der Schlüssel zu sozialem Zusammenhalt, Toleranz und Frieden. Deshalb müssen Lehrer befähigt und das Bildungssystem gestärkt werden.
Ein weiterer tragischer Aspekt: Die Gefahr durch Landminen und nicht explodierte Kriegsreste (UXO) bleibt eine tödliche Bedrohung für Familien. Besonders Kinder sind gefährdet, da sie Blindgänger oft mit Spielzeug verwechseln. Seit 2020 sind mehr als 1260 Kinder durch diese Relikte des Krieges ums Leben gekommen. Allein in der vergangenen Woche starben mindestens elf Kinder bei Vorfällen in den Regionen Aleppo, Daraa und Hama. Diese explosiven Rückstände bedrohen ihre Sicherheit, verhindern den Schulbesuch und den Zugang zu Gesundheitsdiensten und verschärfen Ernährungsunsicherheit, indem landwirtschaftliche Flächen unbrauchbar gemacht werden. Es besteht dringender Handlungsbedarf, u. a. durch verstärkte humanitäre Minenräumung, Sensibilisierung der Bevölkerung, Aufklärungskampagnen über Minengefahren und Unterstützung der Opfer.
Im Norden Syriens herrschen nach wie vor Auseinandersetzungen: So wurde zum Beispiel der Tishreen-Damm, eine lebenswichtige Wasserquelle für Hunderttausende, schwer beschädigt. Ein Zusammenbruch würde 45 flussabwärts gelegene Dörfer – mit 300 000 Menschen, darunter die Hälfte Kinder – verwüsten. UNICEF unterstützt Reparaturen, doch ist ein sicherer Zugang notwendig, um weitere Schäden zu verhindern.
Für die Kinder Syriens muss Frieden herrschen. Obwohl die Herausforderungen immens sind fordert UNICEF alle Parteien und die internationale Gemeinschaft dringend auf, vier entscheidende Schritte zu unternehmen:
- Die Wiederaufnahme der Arbeit staatlicher Institutionen, um essentielle Dienstleistungen wie Bildung zu sichern.
- Ermöglichung robuster humanitärer Hilfe und wirtschaftlicher Erholung durch die Zusammenarbeit öffentlicher und privater Akteure.
- Sofortige Aufstockung der humanitären Hilfe, insbesondere für zurückkehrende Binnenvertriebene und Flüchtlinge, sowie Gewährleistung eines sicheren und ungehinderten Zugangs zu hilfsbedürftigen Familien.
- Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte durch alle Parteien, um den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen.
UNICEF gibt nicht auf und setzt sich weiterhin für die Kinder in Syrien ein. Im Jahr 2024 hat UNICEF mehr als 4,6 Millionen Menschen mit lebenswichtigen Leistungen in den Bereichen Bildung, Ernährung, Gesundheit, Kinderschutz, Wasserversorgung und Sozialschutz erreicht – darunter 2,7 Millionen Mädchen und Buben.
Als Reaktion auf die jüngsten Eskalationen entsandte UNICEF 185 mobile medizinische Teams, ermöglichte 10 000 gefährdeten Kindern den Schulbesuch und stellte für über drei Millionen Menschen den Zugang zu sauberem Wasser sicher. Zusätzlich boten wir Tausenden von Vertriebenen psychosoziale Unterstützung, Schutzdienste und Lebenskompetenztrainings an und förderten so Vertrauen, sozialen Zusammenhalt und Hoffnung.
Die Herausforderungen bleiben jedoch gewaltig: Die Gesundheitsversorgung ist weiterhin äusserst fragil, da fast 40 Prozent der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen nur eingeschränkt oder gar nicht funktionsfähig sind. Rund 13,6 Millionen Menschen sind auf Wasser-, Sanitär- und Hygienedienste angewiesen, während 5,7 Millionen Menschen – darunter 3,7 Millionen Kinder – dringend Ernährungshilfe benötigen. Der Wiederaufbau und die Stärkung der Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Wasser und Hygiene müssen deshalb höchste Priorität geniessen.
Die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder müssen im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen, um Syrien eine friedliche Zukunft zu ermöglichen. Mit diesen gezielten Massnahmen kann Syrien auf einen dauerhaften Frieden hinarbeiten. Ich hoffe von Herzen, dass 2025 endlich ein friedliches Jahr für die Kinder Syriens wird.»