Integrative Schule in der Schweiz: Zeit für eine Verstärkung des inklusiven Ansatzes

Ein Statement von UNICEF Schweiz und Liechtenstein zur erneut entfachten Debatte um die Inklusion an Schulen. Auch nach 15 Jahren Sonderpädagogik-Konkordat ist es wichtig, diesen eingeschlagenen Weg einer inklusiven Schule weiterzugehen und weiterzuentwickeln. So fördern wir Bildungsgerechtigkeit und gewährleisten die Rechte aller Kinder.

Eye-tracking tech helps children with disabilities to attend school
Eye-Tracking-Technologie hilft Kindern mit Behinderungen, die Schule zu besuchen

Die Schweiz steht vor einer entscheidenden Weichenstellung in der Bildungspolitik. In der Politik wird das Thema Inklusion in Schulen neu diskutiert und in Frage gestellt. Dabei sollte es viel mehr darum gehen, wie der Weg hin zu einer inklusiven Schule weiter gestärkt werden kann. Dies ist nicht nur eine bildungspolitische Frage, sondern auch eine Verpflichtung, die sich aus der Kinderrechtskonvention ergibt. Die Stärkung der inklusiven Beschulung ist der Schlüssel, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern, Chancenungerechtigkeiten zu reduzieren und alle Kinder – unabhängig von ihren Fähigkeiten – bestmöglich zu unterstützen.

In der Herbstsession 2024 wird das Parlament das politische Geschäft 24.3244 „Nach 15 Jahren Sonderpädagogik-Konkordat braucht es eine Kurskorrektur“ beraten. Diese Debatte ist von grosser Bedeutung für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention, die die Schweiz bereits 1997 ratifiziert hat. Damit verpflichtete sich unser Land, ein inklusives und für alle Kinder zugängliches Schulsystem zu schaffen. 27 Jahre später sind wir jedoch weit davon entfernt, diese Verpflichtung vollständig umzusetzen.

Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat in seinem Bericht 2021 klar festgehalten, dass das Recht auf inklusive Beschulung in der Schweiz gestärkt werden muss. Besonders betont wurde dabei, dass alle Kinder das Recht auf inklusive Bildung in Regelschulen haben. Für Kantone, die bisher noch keinen Inklusionsansatz verfolgen, forderte der Ausschuss klare Orientierungshilfen und Massnahmen zur Umsetzung dieses Rechtes.

Inklusion bedeutet, dass alle Kinder – unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten – gemeinsam in regulären Schulen unterrichtet werden. Dies fördert nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch die Chancengerechtigkeit. Verschiedene Studien belegen, dass integrative Schulsysteme Bildungsungerechtigkeiten reduzieren und zu besseren Ergebnissen in der beruflichen Integration von Jugendlichen mit Behinderungen führen (Organisation for Economic Co-operation and Development [OECD], 2012).  Insgesamt überwiegen also die positiven Effekte integrativer Schulsysteme deutlich.

Herausforderungen und notwendige Massnahmen

Herausforderungen bestehen: Balestra et al. (2022) haben darauf hingewiesen, dass ein zu hoher Anteil von Kindern mit spezifischem Förderbedarf in einer Klasse negative Effekte auf andere Schülerinnen und Schüler haben kann. Diese Effekte treten jedoch erst ab einem Anteil von 15-20 % auf. Es betrifft vor allem Kinder, die bereits Schwierigkeiten in der Schule haben.

Unbestritten, Schulen und Lehrpersonen stehen vor grossen Aufgaben, wenn es um die Umsetzung des inklusiven Schulsystems geht. Der UN-Kinderrechtsausschuss fordert deshalb konkret, dass Lehr- und Fachpersonen in Integrationsklassen besser geschult und unterstützt werden. Zudem müssen die Kantone klare Strategien entwickeln, um die Inklusion flächendeckend umzusetzen. Dabei ist es wichtig, genügend Ressourcen bereitzustellen, um allen Kindern die bestmögliche Bildung zu ermöglichen und Lehrpersonen optimal zu unterstützen. Der Weg zu einem inklusiven Bildungssystem erfordert Investitionen in Lehrmittel, Weiterbildung und individuelle Unterstützung.

Ein Weg, den es zu gehen gilt

Die politische und gesellschaftliche Diskussion bietet die Chance, die Richtung der Schweizer Bildungspolitik neu zu bestimmen. Möchte die Schweiz ihrer Verpflichtung durch die Kinderrechtskonvention nachkommen, muss der Weg der Inklusion gestärkt werden. Es gilt, von der Separation abzusehen und stattdessen – wo möglich – alle Kinder in Regelschulen zu integrieren. Die Forderung nach einer Abschaffung der integrativen Schule steht im Widerspruch zu dem Ziel, alle Kinder und Jugendliche besser in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Nur durch eine gemeinsame Bildungserfahrung können Kinder lernen, Vielfalt zu schätzen und Barrieren abzubauen. Braucht es nach 15 Jahren Sonderpädagogik-Konkordat eine Kurskorrektur? Im Sinne der Stärkung der Kinderrechte ist eine Kurskorrektur hin zu mehr statt weniger Inklusion nicht nur eine bildungspolitische Notwendigkeit, sondern auch ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung der Rechte aller Kinder in der Schweiz.