Erklärung der UNICEF-Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika, Adele Khodr, zum Abschluss der ersten Phase der Polio-Impfkampagne im Gaza-Streifen.
«Die letzten drei Tage haben einen seltenen Lichtblick inmitten des verheerenden Konflikts im Gazastreifen gebracht. Nach fast einem Jahr, in dem Familien Schrecken erleben mussten, die kein Mann, keine Frau und kein Kind jemals ertragen sollte, haben wir in dieser Woche gesehen, was man mit einfachem Willen erreichen kann.
Mindestens ein Vierteljahrhundert lang gab es im Gazastreifen keine Fälle von Polio. Jetzt ist die unsichtbare Bedrohung aus den Tiefen der ungeklärten Abwässer und des Schutts wieder aufgetaucht. Bislang wurde ein Fall von Polio bei einem elf Monate alten Baby bestätigt – einem Kind, dessen kurzes Leben bereits von den schwierigsten Umständen geprägt war und das nun irreparable körperliche Schäden erleiden wird.
Das Risiko einer Ausbreitung der Kinderlähmung innerhalb des Gazastreifens und sogar darüber hinaus, insbesondere in die Nachbarländer, ist nach wie vor hoch. In dieser Woche haben wir damit begonnen, dieses Problem anzugehen. UNICEF, UNRWA und WHO arbeiten unermüdlich daran, eine Impfkampagne im Gazastreifen durchzuführen, um 640 000 Kinder unter zehn Jahren zu impfen.
Die erste Phase der Kampagne, die vom 1. bis 3. September lief, erreichte mehr als 189 000 Kinder unter zehn Jahren im zentralen Teil des Gazastreifens und übertraf damit das ursprüngliche Ziel. Ungefähr 513 Teams wurden in dem Gebiet eingesetzt.
Trotz der unerbittlichen Angriffe auf Schulen und Einrichtungen, in denen entwurzelte Kinder untergebracht sind, trotz der erschöpfenden Vertreibungsbefehle, die die Familien immer wieder zu Umzügen zwingen, und trotz des weit verbreiteten Hungers, der Teile des Gazastreifens an den Rand einer Hungersnot gebracht hat, haben sich die Familien bemüht, in grosser Zahl zu den Impfstellen zu kommen. Sie wissen, dass sie keine Zeit verlieren dürfen, um ihre Kinder zu schützen.
Die Geschichte und die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben uns gezeigt, dass der sicherste und wirksamste Weg, die Ausbreitung zu stoppen und Kinder vor Polio zu schützen, die Impfung ist. Der Impfstoff ist sicher und wirksam und wurde in den letzten drei Jahren zum Schutz von Kindern in mehr als 40 Ländern eingesetzt.
Ohne die gebietsspezifischen humanitären Pausen, die sicherstellen sollen, dass das Gesundheitspersonal und die Kinder an der Kampagne teilnehmen können, ohne ihr Leben zu riskieren, kann dies jedoch nicht erreicht werden. Die vereinbarten Pausen wurden in dieser ersten Phase eingehalten, was den Familien und dem Gesundheitspersonal die nötige Zuversicht gab, die Arbeit zu erledigen.
Dies muss fortgesetzt werden. Ohne eine Polio-Pause zur Durchführung der verbleibenden zwei Phasen der Kampagne werden wir die Kinder in Gaza nicht schützen können und andere Kinder in der Region gefährden. Wir müssen eine Durchimpfungsrate von mindestens 90 Prozent erreichen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Es war nicht einfach, diese ehrgeizige Kampagne vorzubereiten und diese Pausen zu erreichen, aber sie zeigt, dass es möglich ist, Lieferungen in den Gazastreifen zu ermöglichen, die Angriffe zu unterbinden zu bringen und die Zivilbevölkerung zu schützen.
Kinder im Gazastreifen sind die Leidtragenden des Krieges, denn sie werden täglich von Explosionen und Kugeln bedroht. Die anhaltende Zerstörung lebenswichtiger Infrastrukturen – einschliesslich der Gesundheits-, Wasser- und Abwassersysteme – erhöht weiterhin das Risiko tödlicher Krankheitsausbrüche im gesamten Gazastreifen. Vor Beginn des Konflikts war die Durchimpfungsrate bei Kindern im Gazastreifen mit über 99 Prozent sehr hoch.
Dies ist eine der gefährlichsten und schwierigsten Impfkampagnen der Welt. Der Gazastreifen ist bereits weltweit der gefährlichste Ort, um ein Kind zu sein, und selbst mit einer Polio-Pause ist die Impfkampagne mit grossen Gefahren und unermesslichen Hindernissen konfrontiert. Darunter beschädigte Strassen und Gesundheitsinfrastruktur, vertriebene Menschen, Plünderungen und unterbrochene Versorgungswege.
Die Kinder haben schon genug gelitten. Und jetzt steht noch mehr auf dem Spiel, da weitere Kinder in der Region bedroht sind. Wir dürfen nicht versagen.»