Schwere akute Mangelernährung ist weltweit eine der grössten Bedrohungen für das Überleben von Kindern. Einer von fünf Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren lässt sich darauf zurückführen: Jedes Jahr sterben weltweit über eine Million Kinder daran. Der UNICEF-Bericht zu schwerer akuter Mangelernährung (UNICEF Child Alert: Severe Wasting - An overlooked child survival emergency) warnt, dass die Zahl der betroffenen Kinder weiter zunehmen könnte.
Schwere akute Mangelernährung ist vermeidbar und lässt sich behandeln. Wachsende Armut und Ernährungsunsicherheit in Folge der Covid-19-Pandemie, klimabedingte Krisen und anhaltende Konflikte führen jedoch dazu, dass die Zahl der betroffenen Kinder in vielen Ländern und Regionen steigt. Auch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine verschärfen den weltweiten Hunger.
Bereits vor dem Ukraine-Krieg erhielten rund zehn Millionen Kinder weltweit nicht die lebensrettende Behandlung, die sie für ihr Überleben benötigen. Gleichzeitig rechnet UNICEF damit, dass die Kosten für therapeutische Zusatznahrung (Ready-to Use Therapeutic Foods / RUTF) zur Behandlung dieser Kinder in den kommenden sechs Monaten um 16 Prozent steigen werden.
Nicht nur mehr, sondern auch flexible finanzielle Mittel sind jetzt notwendig, um die Versorgung der betroffenen Mädchen und Jungen mit Spezialnahrung wie Erdnusspaste aufrechtzuerhalten, ihre Behandlung sicherzustellen und die Prävention langfristig und wirkungsvoll zu stärken.
Was ist schwere akute Mangelernährung?
Weltweit lässt sich einer von fünf Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren auf schwere akute Mangelernährung zurückführen. Anders als Kriege oder akute Hungersnöte handelt es sich hierbei um eine stille Tragödie. Oftmals werden die Anzeichen hierfür übersehen und finden auch in der Weltöffentlichkeit wenig oder zu spät Beachtung.
Nach Schätzungen von UNICEF und Partnern sind weltweit derzeit rund 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt. 13,6 Millionen von ihnen sind so schwer betroffen, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hängt.
Ursache ist ein Mangel an nährstoffreichen Nahrungsmitteln und Vitaminen, Eiweiss und lebenswichtigen Spurenelementen. Hinzu kommen häufige Erkrankungen wie Durchfall, Masern und Malaria, die die Widerstandskraft der Kinder zusätzlich schwächen.
Schwere akute Mangelernährung verwandelt gewöhnliche Kinderkrankheiten in eine tödliche Falle. Die ausgezehrten Körper der Kinder sind so geschwächt, dass sie Viren, Bakterien oder Pilzen nichts entgegensetzen können. Ein schwer mangelernährtes Kind ist auf seine einfachsten Körperfunktionen reduziert. Es braucht seine gesamte Energie, um atmen zu können. Das Risiko, dass ein schwermangelernährtes Kind an Krankheiten wie einer Lungenentzündung stirbt, ist elfmal so hoch wie bei einem gesunden Kind.
Seit 2016 ist der Anteil der Kinder, die an lebensgefährlicher schwerer Mangelernährung leiden, in vielen Regionen gestiegen. Besonders stark ist dieser Anstieg in Ländern, die von Konflikten und klimabedingten Krisen betroffen sind und in denen die Kindersterblichkeit ohnehin hoch ist. Auch wirtschaftliche Schocks, einschliesslich der anhaltenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, beeinträchtigen die Kaufkraft der Familien und wirken sich auf die Ernährung von Kindern aus.
Wirksame Hilfe ist möglich
Schwere akute Mangelernährung ist vermeidbar und lässt sich behandeln. Dank therapeutischer Spezialnahrung kann ein betroffenes Kind wieder zu Kräften kommen. Die Behandlung kostet durchschnittlich rund 100 US-Dollar pro Kind. Wenn 90 Prozent der betroffenen Kinder hiermit behandelt würden, könnten jedes Jahr 500 000 Kinderleben gerettet werden – so eine Studie, die 2013 in The Lancet veröffentlicht wurde.
Trotzdem haben allein im Jahr 2020 schätzungsweise 10 Millionen Kinder weltweit nicht die lebensrettende Behandlung erhalten, die sie für ihr Überleben benötigen. Laut Prognosen von UNICEF werden in Folge der aktuellen Krisen die Kosten für therapeutische Spezialnahrung wie Erdnusspaste in den kommenden sechs Monaten um 16 Prozentansteigen. Damit besteht die Gefahr, dass noch mehr betroffene Kinder keine lebensrettende Hilfe erhalten.
Schwere akute Mangelernährung häufig unter dem Radar
Etwa ein Viertel der schwer akut mangelernährten Kinder lebt in akuten Notsituationen, die auch in den Medien und der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erfahren. Doch der grösste Teil, drei von vier der betroffenen Mädchen und Buben, lebt in Regionen weit weg vom Scheinwerferlicht der Medien – in den ärmsten Städten und Gemeinden. Gleichzeitig werden aber vor allem Kinder in Krisen- oderKatastrophengebieten behandelt, rund neun von zehn Kindern.
In vielen Ländern steht therapeutische Spezialnahrung bis heute nicht auf der Liste unentbehrlicher Arzneimittel und Waren, anders als beispielsweise Impfstoffe. Dies wiederum bedeutet, dass sie nicht routinemässig beschafft wird. Darüber hinaus gehört die Behandlung mangelernährter Kinder häufig nicht zu den Routineleistungen der Gesundheitsversorgung, was dazu beiträgt, dass viele lebensbedrohlich mangelernährte Kinder, die nicht in Krisenländern leben, keine Behandlung erhalten.
Zu den zehn Ländern, in denen die absolut höchste Zahl der schwer mangelernährten Kindern unter fünf Jahren lebt, gehören Indien (9 071 029), Indonesien (812 564), Pakistan (678 925), Nigeria (482 590), Bangladesch (327 859), Demokratische Republik Kongo (323 191), Äthiopien (187 396), Philippinen (114 092), Niger (113 634) und Südafrika (97 294).
Steigende Gefahr in Krisenländern
Im vergangenen Jahr prognostizierte UNICEF, dass die Zahl der schwer mangelernährten Kinder in Folge der Pandemie bis 2022 um 20 Prozent steigen könnte. Umfassende, weltweite Daten sind bislang noch nicht verfügbar. Die Entwicklungen in verschiedenen Regionen und Ländern, die von Konflikten und Klimaschocks betroffen sind, weisen jedoch darauf hin, dass die Zahl der schwer mangelernährten Kinder in den vergangenen zwei Jahren dramatisch angestiegen sein könnte:
Am Horn von Afrika (Kenia, Somalia, Äthiopien) ist das Leben von mindestens 1,7 Millionen schwer mangelernährten Kinder bedroht. Wenn der Regen weiter ausbleibt, könnte diese Zahl auf über zwei Millionen ansteigen.
In Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien, Niger und Senegal sind in diesem Jahr rund 1,4 Millionen Kinder von lebensbedrohlicher Mangelernährung bedroht – ein Anstieg von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
In Afghanistan sind 1,1 Millionen Kinder schwer mangelernährt, fast doppelt so viele Mädchen und Jungen wie im Jahr 2018.
Der Kampf gegen schwere akute Mangelernährung braucht mehr Aufmerksamkeit und Investitionen
In vielen Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen hängt die Finanzierung der Behandlung der betroffenen Mädchen und Buben stark von der Unterstützung durch internationale Geber ab.
Bis heute sind die Ausgaben für die Behandlung schwerer Mangelernährung jedoch viel zu niedrig. Im Jahr 2019 beliefen sich die Ausgaben auf 2,8 Prozent der Gesamtausgaben für den Gesundheitssektor und auf lediglich 0,2 Prozent der gesamten Ausgaben für die internationale Zusammenarbeit.
Aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie gehen Prognosen davon aus, dass Mittel für Ernährung weiter gekürzt werden. Im pessimistischsten Szenario werden sie bis 2028 nicht wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen.
UNICEF: Kampf gegen schwere akute Mangelernährung verstärken
Es gibt erprobte und wirksame Lösungsansätze gegen diese stille Tragödie. UNICEF ruft die Regierungen weltweit dazu auf, mit verstärkten Investitionen und gezieltem Handeln gegenzusteuern. Neben langfristigen Lösungsansätzen, die die Menschen wirkungsvoll vor den komplexen Auswirkungen von Covid-19, dem Klimawandel und anhaltenden Konflikten schützen, ist dringendes Handeln erforderlich, um Kinder zu schützen und ihr Überleben zu sichern.
- Geber und Regierungen sollten den globalen Aktionsplan gegen schwere akute Mangelernährung vollständig finanzieren. Durch die hiermit für mehrere Jahre zugesagte Unterstützung könnte sowohl die kurz- und langfristige Behandlung von betroffenen Kindern ausgeweitet als auch die Aufrechterhaltung von wichtigen Unterstützungsleistungen gewährleistet werden. Für diesen Aktionsplan werden jährlich 300 Millionen US-Dollar an zusätzlichen Mitteln benötigt. Dies entspricht etwa0,1 Prozent der gesamten Ausgaben für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit pro Jahr.
- Die von Geberländern zur Bewältigung der aktuellen Hungerkrise bereitgestellten Mittel sollten spezifische Zusagen für therapeutische Spezialnahrung und andere Massnahmen enthalten, die das Überleben schwer akut mangelernährter Kinder sichern.
- Im Zuge der notwendigen Stärkung nationaler Gesundheitssysteme und von Ernährungsprogrammen müssen Massnahmen gegen schwere akute Mangelernährung ein wichtiger dauerhafter Bestandteil sein und Ernährungsprogramme vor Mittelkürzungen geschützt werden.
- Alle relevanten Akteure sollten die Bekämpfung schwerer akuter Mangelernährung als lebensrettende Massnahme für Kinder einstufen und Mittel gezielt dort einsetzen, wo sie am dringendsten benötigt werden.