Kinder­sterblichkeit: Eine unsichtbare Krise

Sonja Deichmann
Sonja Deichmann

Warum uns dieses globale Problem alle etwas angeht. 

Neugeborenen-Intensivstation im Jemen
Am 23. Oktober 2019 wird ein zu früh geborenes Baby auf einer Neugeborenen-Intensivstation im Jemen behandelt. Die Wenigen, die es in Einrichtungen wie das Al Sabeen Maternal Hospital in Sana'a schaffen, erhalten dort kostenlose, lebensrettende Pflege für ihre Neugeborenen.

In einer Welt, in der oft negative Schlagzeilen dominieren, gibt es auch hoffnungsvolle Entwicklungen, die wir nicht vergessen sollten: Laut den neusten Schätzungen der UNIGME ist die weltweite Kindersterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren erstmals auf unter fünf Millionen gesunken und hat damit einen historischen Tiefstand erreicht. Dennoch sind die geschätzten Zahlen nach wie vor hoch. Im Jahr 2022 starben rund 4,9 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. Doch in den meisten Fällen wären diese tragischen Schicksale vermeidbar.

Global gesehen ist es gelungen, die Kindersterblichkeit seit 1990 um 51 Prozent zu senken und einige Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben diesen Rückgang sogar noch übertroffen. Doch die Realität bleibt ernüchternd: 2022 starb alle sechs Sekunden ein Kind unter fünf Jahren. Hier geht es nicht um Statistiken, sondern um Kinder. Die Ergebnisse zeigen auch, dass wir trotz der erreichten Fortschritte noch weit davon entfernt sind, alle vermeidbaren Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren zu verhindern.

Die nach wie vor hohe Kindersterblichkeit ist eine globale gesellschaftliche Krise und ein Zeichen für tiefgreifende Ungleichheiten und strukturelle Probleme wie Armut, unzureichende Gesundheitsversorgung, Mangelernährung und soziale Ungerechtigkeit, die oftmals in den Hintergrund gerückt werden.

Dabei ist und bleibt Kindersterblichkeit ein drängendes Problem, das mehr Aufmerksamkeit und umfassende Massnahmen erfordert.

Kindersterblichkeit bezieht sich auf die Zahl der Kinder, die sterben bevor sie fünf Jahre alt werden. Die Kindersterblichkeitsrate gibt an, wie viele Kinder unter fünf Jahren pro 1000 Lebendgeburten in einem bestimmten Zeitraum sterben.

  • Kindersterblichkeitsrate 
    Wahrscheinlichkeit, zwischen der Geburt und dem Alter von genau 5 Jahren zu sterben (ausgedrückt pro 1000 Lebendgeburten)
  • Säuglingssterblichkeitsrate 
    Wahrscheinlichkeit, zwischen der Geburt und dem Alter von genau 1 Jahr zu sterben (ausgedrückt pro 1000 Lebendgeburten)
  • Neugeborenensterblichkeitsrate 
    Wahrscheinlichkeit, in den ersten 28 Lebenstagen zu sterben (ausgedrückt pro 1000 Lebendgeburten)
     
  • Pro Jahr = 4,9 Millionen (Unsicherheitsspanne von 4,6 – 5,4 Millionen)
  • Pro Monat = 408 000
  • Pro Tag = 13 000

Alle 6 Sekunden starb ein Kind unter fünf Jahren.

278 Millionen Kinder starben zwischen 1990 und 2022 vor dem Alter von 5 Jahren

Grafik Kindersterblichkeit
Weltkarte Kindersterblichkeit

Am meisten betroffen in der Region Subsahara Afrika sind die Länder Niger, Nigeria, Somalia, Tschad und Sierra Leone. Die höchste Sterblichkeitsrate weltweit liegt in Niger bei 177,34 pro 1000 Lebendgeburten laut Schätzungen von 2022. In Südasien sind in Pakistan und Afghanistan die höchsten Sterblichkeitsraten zu verzeichnen. 

Die höchste Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren weltweit ist auf Erkrankungen im Zusammenhang mit der Neugeborenensterblichkeit (in den ersten 28 Tagen) sowie Infektionskrankheiten zurückzuführen (wie zum Beispiel Lungenentzündungen). Dies muss dringend geändert werden. Es wird klar, dass ein starker Schwerpunkt auf diese kritische Anfangszeit eines Neugeborenen gelegt werden muss, um vermeidbaren Todesursachen präventiv entgegenzuwirken. Insbesondere Kinder mit schwerer akuter Mangelernährung weisen ein erhöhtes Risiko auf, an gängigen Kinderkrankheiten zu sterben, denn ihr Körper ist durch die Mangelernährung geschwächt und kann den Krankheiten nichts entgegensetzen.

todesursachen-grafik-kindersterblichkeitsblog

Es ist bestürzend, aber wahr: Die Überlebenschancen von Kindern weltweit sind nach wie vor sehr ungleich verteilt. Die Länder in Subsahara-Afrika (57 Prozent) und Südasiens (26 Prozent) tragen die Hauptlast der weltweiten Kindersterblichkeit. Dort ereignen sich vier von fünf Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren, während nur drei von fünf Lebendgeburten in diesen beiden Regionen stattfinden. Ebenso ist der Wohlstand eines Haushaltes mit den Überlebenschancen verbunden, Kinder aus den ärmsten Haushalten sterben doppelt so häufig vor dem 5. Lebensjahr, wie Kinder aus den reichsten Haushalten. 

Trotz der erfreulichen Entwicklungen, dass seit 1990 die weltweite Kindersterblichkeit um die Hälfte gesunken ist, werden aktuell 59 Länder das Nachhaltigkeitsziel, dass die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren auf mindestens 25 pro 1000 Lebendgeburten senken will, verfehlen. Werfen wir einen Blick auf die aktuellen Zahlen, so werden bis 2030 voraussichtlich 35 Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben.

Hier wird deutlich:

Die Zunahme von Ungleichheit, wirtschaftlicher Instabilität und einer Vielzahl neuer und langwieriger Konflikte stellen grosse Herausforderungen dar. Auch die sich verschärfenden Auswirkungen des Klimawandels und die langfristigen Folgen von Covid-19 gefährden das Überleben von Kindern in weiten Teilen der Welt. 

Niger:

Kindersterblichkeit Niger

Aktuelle Entwicklungen: 

  • Weniger als die Hälfte aller Kinder und Mütter haben Zugang zu einer Gesundheitseinrichtung. 
  • Viele Herausforderungen im Gesundheitssystem und Mangel an Gesundheitspersonal. 
  • Probleme werden verstärkt durch den Klimawandel (Hitze, Überschwemmungen, Nahrungsunsicherheit). 
  • Nur 20 Prozent der Kleinkinder schlafen unter einem Moskitonetz, hohes Risiko für Malaria. 

Trend und Ausblick: 

  • Seit 1990 ist die Kindersterblichkeit von 332 gesunken. Bis 2050 wird prognostiziert, dass sie auf 36 sinkt. 
     

Pakistan:

Kindersterblichkeit Pakistan

Aktuelle Entwicklungen: 

  • Kein Zugang zu sauberem Wasser in den von Überschwemmungen betroffenen Gebieten. 
  • Kinder sind anfälliger für Mangelernährung und Krankheiten. 
  • Ausbau von mehr Gesundheitseinrichtungen mit resilienter Energie, wodurch bis 2030 bis zu 175 000 Todesfälle verhindert werden können.
  • Geringere Krankheitslast durch die verbesserte Energieversorgung, die sich schneller von Schocks und Ausfällen erholen kann. 

Trend und Ausblick: 

  • Seit 1990 ist die Kindersterblichkeit von 139 gesunken. Bis 2050 wird prognostiziert, dass sie auf 35 sinkt.

Haiti:

Kindersterblichkeit Haiti

Aktuelle Entwicklungen: 

  • Umsetzung von Ernährungsmassnahmen zur Reduzierung von Mangelernährung. 
  • Grosse Unterschiede in der Versorgung zwischen Stadt und Land. 
  • Geringer Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen in ländlichen Gebieten. 
  • Die meisten ungeimpften Kinder leben in benachteiligten Stadtvierteln der Grossstädte. 
  • Nicht genügend Gesundheitspersonal.  

Trend und Ausblick: 

  • Seit 1990 ist die Kindersterblichkeit von 144 gesunken. Bis 2050 wird prognostiziert, dass sie auf 30 sinkt.

Es gibt eine zentrale Erkenntnis, welche die globale Gemeinschaft aus der Problematik der Kindersterblichkeit lernen muss. Oftmals sind es die Gesundheitssysteme, die nicht gut genug vorbereitet sind, um die Sterblichkeit bei Kindern effektiv zu reduzieren. Kindersterblichkeit ist zwar für viele Regierungen möglicherweise nicht immer oberste Priorität, doch die hohen Sterblichkeitsraten in vielen Ländern zeigen, dass sie ein anhaltendes Problem ist. Wir müssen daher alles tun, um schwache und unterfinanzierte Gesundheitssysteme weltweit zu stärken. Sie sollten die notwendigen Massnahmen ergreifen können, um Kindersterblichkeit langfristig zu senken. Genau an diesem Punkt knüpft UNICEF an, mit dem Versprechen, sich für jedes Kind auf der Welt einzusetzen, damit es in Sicherheit und gesund aufwachsen kann.

Mit den Nachhaltigen Entwicklungszielen hat sich die Weltgemeinschaft ehrgeizige Ziele gesetzt, damit wir in Zukunft in einer gerechteren Welt friedlich zusammenleben können. 

Dazu gehört auch, dass kein Neugeborenes und kein Kind mehr an vermeidbaren Ursachen sterben soll. Jedes Kind hat das Recht zu überleben. Das ist ein wichtiger Punkt im Übereinkommen der Rechte des Kindes und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

Wir verfügen bereits über das Wissen und die Mittel, um viele dieser Todesfälle zu verhindern. Wenn wir es versäumen, dieses Wissen anzuwenden, nehmen wir dann stillschweigend diese hohe Kindersterblichkeitsrate hin? Eine Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt, die jedoch eine Reflexion über unsere Verantwortung als Weltgesellschaft fordert. Sie zeigt uns, dass wir die bestehenden Herausforderungen aktiv angehen sollten, anstatt uns mit dem Status quo abzufinden.

Eine hohe Kindersterblichkeit in einem Land ist oft ein Symptom für tief verwurzelte systemische Probleme wie Armut, soziale Ungleichheit, mangelnder Zugang zu Bildung und unzureichende Gesundheitsversorgung. Diese Probleme stehen nicht isoliert, sondern in komplexem Zusammenhang mit globalen Herausforderungen, die Frieden, Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität bedrohen. Länder mit einer hohen Kindersterblichkeit befinden sich häufig in einem Teufelskreis aus Armut und begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten, der nicht nur das individuelle Wohlergehen der betroffenen Bevölkerung beeinträchtigt, sondern auch die Stabilität ganzer Regionen gefährden kann. Durch die gemeinsame Bewältigung dieser Herausforderungen und den Austausch von Ressourcen und Wissen kann die Weltgemeinschaft einen Beitrag zu einer gesünderen, stabileren und gerechteren Welt für alle leisten.

Frühchen Trage
Bernadette Best, eine 31-jährige Mutter, praktiziert die Känguru-Methode in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns. Bernadette, Mutter von 5 Kindern, hat in der 28. Woche Zwillinge zur Welt gebracht. Leider starb ein Kind. Sarah, das kleine Frühchen, überlebte und kam mit einem Gewicht von 1,3 kg zur Welt. Mit der Känguru-Methode geht es dem kleinen Mädchen, das inzwischen 40 Tage alt ist, wieder viel besser.

Viele Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren können durch einfache Massnahmen vor, während oder nach der Geburt verhindert werden. UNICEF setzt sich aktiv dafür ein, die Gesundheitsversorgung in den ärmsten Ländern zu verbessern. Auch eine verbesserte Hygiene, Impfungen und wirksame Medikamente gegen Krankheiten wie Malaria tragen dazu bei, die Kindersterblichkeit weiter zu senken.

UNICEF engagiert sich durch die Ausstattung lokaler Gesundheitszentren mit lebenswichtigen medizinischen Geräten und Medikamenten, die Ausbildung von Gesundheitspersonal sowie die Durchführung von gross angelegten Impfkampagnen, zum Beispiel gegen Malaria.

Eins steht fest: Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können aus ihr lernen. Der Weg zur Beendigung der vermeidbaren Todesfälle bei Kleinkindern ist zwar noch lang, aber mit weiterem Engagement und verstärkten Investitionen können wir dieses Ziel erreichen. 

Kindersterblichkeit Blog
Ayedatujannah wurde 8 Wochen zu früh geboren und war von lebenserhaltenden Massnahmen abhängig. Sie überlebte dank der von UNICEF unterstützten Neugeborenen-Spezialstation und dem Stillen ihrer Mutter.

Die Senkung der Kindersterblichkeit erfordert Investitionen in die Betreuung von Müttern rund um die Geburt durch qualifiziertes Gesundheitspersonal, in die grundlegende Versorgung von Neugeborenen und in die Pflege von kleinen und kranken Neugeborenen. Die Zahlen zeigen: Wenn wir uns nachhaltig für die Gesundheit und das Überleben von Kindern einsetzen, erreichen wir auch langfristige Ziele.

Als Weltgemeinschaft können wir auf verschiedenen Ebenen aktiv werden, um die Kindersterblichkeitsrate nachhaltig zu senken. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die Menschen in den ärmsten Regionen der Welt Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und Impfungen haben. Ausserdem ist der Zugang zu sauberem Wasser und angemessene Sanitäranlagen essenziell, um Krankheiten vorzubeugen. Bildung für Mütter und Familien spielt ebenso eine zentrale Rolle, um das Bewusstsein für eine gesunde Lebensweise und Vorsorgemassnahmen zu stärken. Durch gezielte finanzielle Unterstützung und den Einsatz moderner Technologien können wir innovative Lösungen entwickeln, die auch die entlegensten Gebiete erreichen.

Letztlich geht es darum, globale Solidarität zu zeigen und gemeinsam in eine Zukunft zu investieren, in der jedes Kind die Chance auf ein gesundes Leben hat.

Nur wenn wir zusammenarbeiten, können wir dieses Ziel erreichen – für jedes Kind, überall auf der Welt. 

Sterblichkeitsrate von Kindern unter 5 Jahren hat sich seit 2000 halbiert 

2022 starben 2,3 Millionen Neugeborene und 2,6 Millionen Kinder unter 5 Jahren

Hohe Kindersterblichkeit in ärmeren Regionen und Konfliktgebieten

Ohne Massnahmen werden viele Länder die Ziele zur Senkung der Kindersterblichkeit nicht erreichen

Einige Länder haben die Kindersterblichkeit trotz begrenzter Ressourcen deutlich gesenkt

Investitionen in Impfungen und Geburtshilfe sind entscheidend

In vielen Ländern fehlen aktuelle Daten zur Kindersterblichkeit, was Massnahmen erschwert

Lokale Massnahmen und verstärkte Investitionen in die Gesundheit von Müttern und Kindern sind notwendig