Das Jahr 2020 ist von einem Thema überschattet: Corona. Milliardenschwere Hilfspakete werden geschnürt, Hygienekonzepte sollen die Pandemie und ihre Folgen eindämmen. Doch bei allen Massnahmen werden die Interessen, Meinungen und Ängste von Kindern und Jugendlichen übersehen. UNICEF Schweiz und Liechtenstein hat die 2019 erstmals durchgeführte kleine Studie «Youthfluencer» dazu genutzt, die durch Corona veränderten Bedürfnisse junger Menschen am Beispiel von Youthfluencern zu identifizieren und sichtbar zu machen.
Die Corona-Pandemie gefährdet Kinder und Jugendliche direkt am wenigsten. Aber paradoxerweise sind es gerade sie, die besonders unter den Folgen leiden. Die Kontaktverbote haben für die jungen Menschen gravierende Auswirkungen auf ihre Entwicklung und psychische Gesundheit. Denn soziale Kontakte unter Gleichaltrigen sind in dieser Lebensphase besonders wichtig. Sie beeinflussen die Identitätsfindung massgeblich. Hier stellen sich die Weichen zum Erwachsenenleben. Sie festigen ihre eigene Identität sowie ihre Position in der Gemeinschaft. Die Gleichaltrigen, sogenannte Peers, bieten Orientierung, mit ihnen fühlen sich die Jugendlichen verbunden. Diese wichtigen direkten Kontakte können das Smartphone und die sozialen Medien nicht ersetzen. Dazu kommt, dass viele wichtige Fixpunkte für die Jugend wie Schulabschluss, Ferienlager und Partys ausgefallen sind. Kinder und Jugendliche haben Angst davor, das Gefühl der Zugehörigkeit zu verlieren. Zukunftsängste sind ebenfalls ein Thema, das sie sehr aktuell beschäftigt.
Freundschaft mit Youthfluencern
Die Folgen sind so weitreichend und langfristig, dass bereits von einer Generation Corona gesprochen wird. Während des Lockdowns wurden Kinder und Jugendliche weniger stark gefördert, begleitet und geschützt. Aufgrund ihres eingeschränkten Aktionsradius gewinnen soziale Medien an Bedeutung. Und mit ihnen werden auch die Youthfluencer immer wichtiger im Leben junger Menschen. Doch wie gehen diese Vorbilder der Jugend, die selbst zu den Betroffenen zählen, mit dieser Verantwortung um?
UNICEF hat die Top-54-Youthfluencer anhand Followerzahl der Schweiz für 2020 identifiziert. Zusätzlich wurden die Posts der 25 reichweitenstärksten Youthfluencer während des Corona-Lockdowns analysiert. Dabei wurde die Reichweitenentwicklung während des Zeitraums untersucht wie auch qualitative Auswirkungen, etwa beim Umgang mit der Situation sowie mit ihren Emotionen aufgrund der Einschränkungen der Pandemie.
Zwei Drittel der Top-Youthfluencer sind männlich. Im Vergleich zum Vorjahr hat ihr Anteil etwas zugenommen. Gegenüber 2019 sind die Meinungsmacher jünger geworden. Gerade der Anteil der 0- bis 10-Jährigen hat zugenommen, besonders markant ist der Anstieg bei den 16- bis 18-Jährigen: ihre Anzahl hat sich verdoppelt. Die vorherrschenden Themen in dieser Gruppe sind weiterhin Fashion und Lifestyle. Bei den Social-Media-Kanälen liegt Instagram weiterhin an erster Stelle. Der grosse Verlierer ist Facebook. TikTok gewinnt rasant an Bedeutung. Im Vergleich zum Vorjahr nutzen fast doppelt so viele Youthfluencer TikTok als Hauptkanal. Im Mittel haben Youthfluencer auf TikTok 4,5-mal mehr Abonnenten als auf Instagram. Während die Eine-Million-Follower-Marke auf TikTok gleich von fünf Youthfluencern geknackt wird, bleibt sie auf Instagram unberührt. Obwohl TikTok ein junger Kanal ist, haben die fünf aktivsten Youthfluencer insgesamt bereits über 11 000 Posts abgesetzt. Auf Instagram sind es im Vergleich nur 6000 Posts. Während auf TikTok 17 Prozent der Follower einen Post liken oder kommentieren, sind es auf Instagram lediglich 6 Prozent der Abonnenten. Die Reichweite der Youthfluencer über alle Social-Media-Kanäle hinweg hat sich gegenüber dem letzten Jahr verdoppelt. Sie liegt jetzt bei 20,5 Millionen Followern. Allein Top-Youthfluencerin Noemi Nikita hat 5 Millionen Follower.
Angst, sich an diese kontaktlose Welt zu gewöhnen
Corona hat die Kommunikation der Youthfluencer beeinflusst. Während bei den Top-Youthfluencern in den Vormonaten die Anzahl an Followern durchschnittlich um 2,3 Prozent wuchs, fiel sie in den Lockdown-Monaten auf 1,2 Prozent. Jugendliche haben nicht vermehrt nach neuen Kontakten gesucht, sondern ihre Kommunikation intensiviert. Darauf deutet die Zunahme der Anzahl Posts während März bis Mai um durchschnittlich 10 Prozent hin. Das Thema Corona haben 84 Prozent der Youthfluencer in mindestens einem Beitrag aufgegriffen. Dabei sind sie höchst unterschiedlich mit dem Thema umgegangen. 40 Prozent von ihnen haben eine Vorbildfunktion in Bezug auf Corona-Massnahmen eingenommen. Sie haben ihre Bekanntheit dafür genutzt und zum regelmässigen Händewaschen, zur Wahrung eines Sicherheitsabstands sowie dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Einige haben auch dazu motiviert, bedürftigen Menschen zu helfen. Mehr als ein Drittel der Youthfluencer haben ihre Langeweile während des Lockdowns thematisiert – etwa indem sie ihre Community nach Beschäftigungs-Tipps gefragt, sich die Haare abrasiert oder dokumentiert haben, wie sie den ganzen Tag im Bett verbringen. Jeder dritte Influencer hat sich über die Folgen des Lockdowns lustig gemacht, zum Beispiel über Hamsterkäufe von WC-Papier oder abgesagte Prüfungen. Die Einschränkungen der individuellen Freiheiten wurden mehrheitlich akzeptiert. Sehnsüchte wie das Vermissen von Freunden oder Familienangehörigen, Reisen in entfernte Länder, Partys oder Shopping wurden breit thematisiert, aber auch Wünsche, was sie jetzt tun würden, wenn es Corona nicht gäbe. Jeder fünfte Influencer äusserte sich besorgt oder war verängstigt. Die Sorgen drehten sich um Beruf und Karriere, aber auch um die Gesundheit ihrer Liebsten. Oft wurde während des Lockdowns mit «Throwback Posts» auf bestehendes Material zurückgegriffen und so das Leben vor Corona thematisiert.
Drei Top-Youthfluencer am Digitaltag
Bereits im letzten Jahr haben Youthfluencer am Digitaltag 2019 Einblicke in ihr Leben gegeben. Schon vor Corona wussten sie um ihren Einfluss auf ihre Community und haben sich gut überlegt, ob und was sie etwas posten. Beim Digitaltag 2020 sind es am 2. November drei Top-Youthfluencer, die uns ihre Erfahrungen, Ängste, Wünsche und Botschaften im Pandemie-Jahr mitteilen werden. Gemeinsam mit dem Bieler Rapper Nemo werden sie online per Live-Stream persönliche Einblicke geben, die wir sonst über ihre sozialen Medien nicht bekommen. Sie werden aufzeigen, wie sie sich selbst gegen Mobbing, Sexting schützen und wie sie ihr Recht auf freie Meinungsäusserung und Partizipation nutzen. Musiker Nemo setzt sich bereits für die Kinderrechte ein, etwa 2019 mit seinem Auftritt auf dem Bundesplatz in Bern zum 30-jährigen Bestehen der Kinderrechtskonvention.
Partizipation ist keine Frage von Likes
UNICEF macht sich nicht nur offline für die Kinderrechte von jungen Menschen stark, sondern auch online und in den sozialen Medien. Dabei geht es insbesondere um die Sensibilisierung und Information. Jedes Kind soll sich darüber bewusst sein, dass es ein Recht auf Information, ein Recht auf freie Meinungsäusserung und auf Partizipation hat und dass es den Schutz der Privatsphäre gibt.
UNICEF will mit der Weiterführung der Vorstudie und dem Engagement am Digitaltag aufzeigen, wie die jungen Meinungsmacher Verantwortung gegenüber ihrer Community wahrnehmen. Eine Reichweite von 20,5 Millionen Followern allein von den identifizierten Top-54-Youthfluencern ist eine gewichtige Stimme. Die Pandemie mit dem Wegbruch von wichtigen persönlichen Kontakten hat langfristig Auswirkung auf die Entwicklung von jungen Menschen beim Übergang zum Erwachsenensein. Die Youthfluencer kompensieren diesen Wegfall Gleichaltriger bis zu einem gewissen Grad. Ihre Verantwortung für die Gesellschaft ist mit Corona gewachsen. Umso wichtiger ist es, dass sich die jungen Meinungsmacher ihrer Rolle bewusst sind. Im Gegenzug müssen Erwachsene den sozialen Freiraum schaffen, in denen sich Kinder und Jugendliche geschützt bewegen und entwickeln können.
Die kleine Studie wurde in Zusammenarbeit mit Academic Alpha, einem Beratungs- und Marktforschungsunternehmen mit engem Bezug zur Universität Bern, erhoben. Das Ziel ist die Stärkung der Kinderrechte auch in den sozialen Medien mit dem Recht auf Information, dem Schutz der Privatsphäre, dem Recht auf freie Meinungsäusserung oder dem Recht auf Partizipation. UNICEF Schweiz und Liechtenstein setzt neben der kleinen Studie zur Identifizierung der Youthfluencer auf Tagungen zum Thema Kinderrechte im digitalen Raum, die Sensibilisierung auf Gemeindeebene mittels Merkblättern und runder Tische sowie Empfehlungen an Schweizer Unternehmen.
Digitaltag 2. November: Live-Stream
An den Schweizer Digitaltagen partizipiert UNICEF am 2. November um 17 Uhr mit einer Gesprächsrunde von drei Top-Youthfluencern (Michelle Weller (Michelle Melody), Eray Birinci und Lorenz Weisse) und dem Musiker Nemo bei einem Live-Streaming.