El Niño: ein Phänomen der Extreme

Leonie Lüscher
Leonie Lüscher

El Niño bedroht dieses Jahr das Leben von Millionen von Kindern auf der ganzen Welt mit harten Wintern, intensiven Regenzeiten und extremen Dürreperioden. Für Mädchen und Buben, die inmitten von Konflikten und Unruhen leben, könnte diese Kombination verheerend oder sogar tödlich sein. Doch was genau bedeutet ein starkes El-Niño-Ereignis für Kinder in Krisen? 

Ein pakistanischer Junge steht vor Gewässer.

El Niño ist ein natürliches Klimaphänomen, bei dem die Meerestemperaturen im zentralen und östlichen äquatorialen Pazifik überdurchschnittlich warm werden. Die Erwärmung des Wassers führt zu einem temporären Anstieg der globalen Temperaturen und erhöht die Wahrscheinlichkeit von extremen Wetterereignissen in Regionen auf der ganzen Welt. Seit 1980 ist El Niño achtmal aufgetreten – die letzte Periode dauerte von 2015-2016.  

Im Juni 2023 begann eine neue El-Niño-Saison. Das Ereignis soll zu den fünf stärksten El Niños der Geschichte zählen und schwere Störungen der globalen Wetter- und Klimamuster verursachen. In ihrer starken Ausprägung bedeuten El-Niño-Ereignisse Sintfluten statt trockener Witterung und verheerende Trockenheit statt tropischer Feuchte – das Klima kippt sozusagen von seinem regulären Zustand ins extreme klimatische Gegenteil. Im Januar 2024 soll El Niño seinen Höhenpunkt erreichen und voraussichtlich bis April 2024 anhalten.  

Karte über die klimatischen Veränderungen.
El-Nino-Bedingungen im tropischen Pazifik sind dafür bekannt, dass sie die Niederschlagsmuster und Temperaturen in vielen verschiedenen Teilen der Welt verändern.

El Niño führt weltweit an vielen Orten zu extremen Wetterereignissen wie Starkregen, Überschwemmungen, Wirbelstürmen und Dürre. In den letzten sechs Jahren wurden 43,1 Millionen Kinder aufgrund wetterbedingter Extreme intern vertrieben. Bereits heute lebt eine Milliarde Kinder in «extrem gefährdeten» Klimazonen: 160 Millionen von ihnen in Gebieten, in denen schwere Dürren herrschen, und weitere 500 Millionen Mädchen und Buben leben in Regionen, in denen es häufig zu Überschwemmungen kommt. Sollten sich die Vorhersagen über das Ausmass von El Niño in diesem Jahr bewahrheiten, werden diese Kinder aufgrund der Klimaanomalie grossen Risiken ausgesetzt sein.  

Wenn El Niño unvorhergesehene oder extreme jahreszeitliche Veränderungen verursacht, leiden in erster Linie die Kinder. Besonders diejenigen, die inmitten von Konflikten, Armut und politischer Instabilität aufwachsen, aber auch jene in Regionen, die sich noch von Erdbeben oder Zyklonen erholen, sehen sich mit immensen Herausforderungen konfrontiert. 

Übersicht über diverse Auswirkungen von El Nino auf Kinder.
  • El Niño und die damit verbundenen Regenfälle und Temperaturanstiege verursachen verschiedene Gesundheitsrisiken für Kinder;
  • Überschwemmungen zerstören Schulen und zentrale Verkehrsinfrastrukturen;
  • Dürren zwingen Kinder zum Schulabbruch, da sie ihren Familien dabei helfen müssen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten;
  • Wetterbedingte Vertreibung kann zu Bildungslücken, Hunger und Traumata führen. 
  • In Ländern mit langanhaltenden Krisen – wie etwa in Afghanistan, Syrien und der Ukraine – gefährden intensive Wintermonate und eisige Temperaturen das Leben von zahlreichen Kindern.

In Somalia steht ein Mann vor den Überresten seines Zuhauses, dass von starken Überschwemmungen zerstört wurde.
Im Oktober 2023 verursachte El Niño eine Zunahme der saisonalen Regenfälle in Somalia, die schwere Überschwemmungen auslösten. Bis zum 10. Dezember 2023 waren 2,48 Millionen Menschen in Zentral- und Südsomalia von den Auswirkungen des Starkregens betroffen.

Historisch gesehen hat El Niño weitreichende, gravierende Folgen für Mensch und Umwelt. Doch dieses Mal erleben wir das Klimaphänomen zu einem Zeitpunkt, in dem wir bereits mit einer weltweiten Polykrise konfrontiert sind: Lebensmittel- und Energiekrisen, eine steigende Inflation, hohe Verschuldung und eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums prägen den Alltag unzähliger Menschen. El Niño könnte die bereits bestehenden negativen Auswirkungen der Polykrise auf Lebensunterhaltskosten, Ernährungssicherheit und Armut zusätzlich verschlimmern und somit weltweiten Hunger und Leid verstärken. 

Wann spricht man von einer Polykrise?  

Eine Polykrise ist mehr als einzelne, sich zeitlich überlappende Krisen. Es ist eine Ansammlung miteinander verbundener globaler Risiken, mit sich gegenseitig verstärkenden Auswirkungen, so dass die Gesamtauswirkungen die Summe aller einzelnen Krisen übersteigen. Eine Polykrise hat das Potenzial, sich selbst durch weitere Instabilität zu verstärken und letztendlich zu einem Zusammenbruch des Systems zu führen.


  • Im Winter 2024 wird El Niño voraussichtlich vor allem die Niederschläge und Temperaturen in den Tropen und in Afrika südlich der Sahara beeinflussen. Dies könnte sich negativ auf die Fischerei und auf ausschliesslich durch Regen bewässerte Landwirtschaft auswirken. 
  • Es wird erwartet, dass El Niño die globale Erwärmung zwischen 2023 und 2024 auf mehr als 1,5 Grad Celsius erhöhen wird. 
  • El Niño beeinflusst die Ernteerträge von 25 Prozent der weltweiten Anbauflächen.  
  • Generell verbessert El Niño die weltweiten Sojabohnenerträge, reduziert jedoch die Mais-, Reis- und Weizenernte, obwohl sich die Auswirkungen je nach Region stark unterscheiden. 
  • Da 60 Prozent des globalen Nahrungsmittelangebots aus fünf Ländern stammt, die stark von El Niño betroffen sind – China, USA, Indien, Brasilien und Argentinien –kann selbst ein moderates Ereignis grosse Auswirkungen auf die weltweite Lebensmittelversorgung und -preise haben.
  • Es muss mit wirtschaftlichen Verlusten in diversen Ländern gerechnet werden, besonders in den Tropen sowie Subsahara-Afrika (siehe Abb. 2). 
  • Historisch gesehen hat ein Temperaturanstieg von einem Grad während El Niño die weltweiten Lebensmittelpreise nach einem Jahr um sechs Prozent erhöht. 
  • El Niño könnte die bereits kritische Verschuldungssituation einiger Länder im Ausland noch verschärfen. Bereits jetzt befinden sich 60 Prozent der einkommensschwachen Länder in einer Schuldennotlage. 
Überblick Einkommensverluste durch El Nino.
Weltweite Einkommensverluste in den fünf Jahren nach El Niño Ereignissen von 1982-1983 und 1997-1998, wovon der grösste Teil von den ärmsten Ländern der Welt getragen wird.
  • Steigende Armut: Laut Schätzungen würde ein starker El Niño auf den Philippinen beispielsweise zusätzliche 5,1 Millionen Menschen in die Armut treiben. 
  • Frauen und arme, ländliche Haushalte leiden überproportional unter El Niño. 
  • Verschärfung der weltweiten Ernährungsunsicherheit und Hunger. 
  • Wetterereignisse in Verbindung mit El Niño lösen Vertreibungen aus – besonders gefährdet sind etwa Äthiopien, Guatemala, Honduras, Mosambik und der Sudan.

Ein Bub schiebt in einem Notlager in Afghanistan Hilfsgüter von UNICEF auf einem Schubkarren.
Am 12. Oktober 2023 bringt der 12-jährige Ahmad – ein Überlebender der jüngsten Erdbeben in Afghanistan – von UNICEF bereitgestellte Winterkleidung und Küchenutensilien, mit dem Schubkarren zurück in seine Notunterkunft im Dorf Koshkak im Westen Afghanistans.

Vorsorge, der Aufbau von Klimaresilienz und frühzeitiges Handeln sind entscheidend für eine effektive Reaktion auf vorhersehbare humanitäre Krisen. Antizipative Massnahmen sollten ganzheitlich die potenziellen Auswirkungen auf Kinder berücksichtigen und verschiedene Sektoren (wie Bildung, Gesundheit, Ernährung, Sozialschutz, Wirtschaft, Landwirtschaft, Ernährungssysteme, Sicherheit, Energie) einbeziehen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Auswirkungen von El Niño noch Jahre nach dem eigentlichen El-Niño-Ereignis anhalten, ist ein integrierter Ansatz erforderlich, der die Kluft zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklung überbrückt. Dieser Nexus geht über die humanitäre Hilfe hinaus und umfasst sowohl die langfristige Erholung als auch den Aufbau einer nachhaltigen Widerstandsfähigkeit. 

Anpassungen und Ausweitung der Sozialschutzprogramme zum Schutz der Armen und Gefährdeten müssen angesichts der unverhältnismässig starken Auswirkungen auf diese Gruppe erfolgen. Zudem müssen Investitionen getätigt werden, um die Sozialschutzsysteme dem Ansatz von UNICEF entsprechend schockresistenter zu machen.  


Ein syrisches Mädchen wird in einer von UNICEF unterstützen mobilen Klinik fotografiert.
Die Zweijährige Fatouma hat in einer von UNICEF unterstützen mobilen Klinik in Nordsyrien eine medizinische Behandlung erhalten. Auch ihre Familie gehört zu den Betroffenen des Erdbebens im Februar 2023.

Syrien

Grundsätzlich sind die Winterbedingungen in Syrien für die Bevölkerung bereits sehr schwer, durch El Niño könnte jedoch dieser Winter für Millionen von Kindern verheerend werden. 90 Prozent der syrischen Bevölkerung lebt in Armut, die wirtschaftliche Instabilität, eine hohe Ernährungsunsicherheit und steigende Lebensunterhaltskosten erschweren ihren Alltag, knapp 85 Prozent der Bevölkerung können sich lebensnotwendige Güter nicht leisten. Zusätzlich sind sie mit den tragischen Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023 konfrontiert. Insgesamt sieben Millionen Kinder sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen.  


In Haiti gehen Menschen entlang von Gewässer.
In Zusammenarbeit mit dem Ministerium für öffentliche Arbeiten, Verkehr und Kommunikation (MTPTC) arbeitet UNICEF in Cité Soleil an der Sanierung der Abwasserkanäle. Feste Abfälle, die Abflüsse, Kanäle und Strassen verstopfen, werden entfernt, um das Risiko von Überschwemmungen und Krankheiten zu verringern.

Haiti

In Haiti bringen politische Unruhen, bewaffnete Gewalt und wiederkehrende Katastrophen Schmerz und Leid über die Kinder. Eine sozioökonomische Krise, steigende Inflation und Treibstoffknappheit haben Millionen von Mädchen und Buben in die Armut getrieben. Viele von ihnen leben ohne ausreichende Nahrung oder sind von einer anhaltenden Cholera-Epidemie bedroht. Die aufeinanderfolgenden Überschwemmungen in den Jahren 2022 und 2023 haben das ohnehin schon angeschlagene Land weiter belastet. Ein starker El Niño mit seinen unerbittlichen Herausforderungen würde die Krise verschärfen und die Chance der Kinder auf eine bessere Zukunft weiter mindern.  


Eine junge Familie sitzt in Äthiopien in einem Notlager und lacht.
Ein Hauch von Glück inmitten der Krise. Halima Kahin lacht mit ihren Kindern, während ihr Ehemann Nasir eine alte Matte heranzieht, auf der seine Kinder sitzen können. Ihre beiden Kinder, Lina und Mohammed, haben eine Behinderung. Die Familie ist durch die Dürre vertrieben worden, und jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben.

Äthiopien

Äthiopien hat mit einer vielschichtigen Krise zu kämpfen, die durch soziopolitische Spannungen in den Regionen Amhara und Somali, und klimabedingten Katastrophen gekennzeichnet ist: 20 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Land kämpft mit einem hohen Mass an Mangelernährung, eingeschränktem Impfschutz, Choleraausbrüchen, Wüstenheuschreckenplage und unzureichender Wasserversorgung. Im Süden und Osten hält die schlimmste Dürre seit 40 Jahren an, während in anderen Regionen unregelmässige Niederschläge die landwirtschaftlichen Erzeugnisse stören und die Wasserressourcen belasten. Knapp 4,4 Millionen mussten ihr Zuhause verlassen und sind nun Binnenvertriebene. Die Vorhersage von El Niño birgt ein erhöhtes Risiko von Überschwemmungen, die eine Bedrohung für Infrastruktur, Landwirtschaft und Viehbestand darstellen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit von durch Wasser übertragenen Krankheiten wie Cholera und Malaria erhöhen.