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Kinder auf der Flucht

Saskia Kobelt
Saskia Kobelt

Noch nie waren so viele Kinder auf der Flucht wie heute. 36.5 Millionen Kinder sind aufgrund von Migration oder Flucht entwurzelt. Das sind über vier Mal so viele Kinder wie die Schweiz Einwohner hat. Kriege, Konflikte, Naturkatastrophen, Hunger, Wassermangel und Armut zwingen sie mit oder ohne ihre Familien, ihr Zuhause zu verlassen, oft auf lebensgefährlichen Wegen. Was sie alle verbindet, ist die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Am heutigen Weltflüchtlingstag wird dem Inkrafttreten der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gedenkt . Am Weltflüchtlingstag stehen UNICEF und die UN-Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, das UNHCR, in Solidarität mit allen entwurzelten Kindern und Erwachsenen. 

Eine von 78 Personen auf der Welt ist aufgrund von Konflikten, Gewalt oder anderen Krisen vertrieben worden. Diese Zahl hat einen tragischen neuen Höchstwert erreicht. Innerhalb nur eines Jahrzehnts hat sich die Zahl der weltweit Vertriebenen verdoppelt. Bereits Ende 2021 lag diese bei einem Höchstwert von 89,3 Millionen Menschen weltweit. Seitdem hat die russische Invasion in der Ukraine eine der grössten und die am schnellsten wachsende Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Dies hat neben den sich verschärfenden Notlagen in afrikanischen Ländern, in Afghanistan und weiteren Regionen der Welt die Zahl über den dramatischen Meilenstein von 100 Millionen steigen lassen.

Das vergangene Jahr zeichnete sich durch eine Vielzahl eskalierender und neu aufflammender Konflikte aus. 23 Länder mit einer Einwohnerzahl von zusammen 850 Millionen Menschen waren nach Angaben der Weltbank mit Konflikten mittlerer oder hoher Intensität konfrontiert. Nahrungsmittelknappheit, Inflation und die Klimakrise verschlimmern die Not der Menschen und belasten die humanitäre Hilfe. Die Zahl der Flüchtlinge stieg im Jahr 2021 auf 27,1 Millionen. Die meisten Flüchtlinge fanden in Nachbarländern wie in Uganda, Tschad oder dem Sudan Schutz. Gleichzeitig stieg im vergangenen Jahr die Zahl der Menschen, die aufgrund von Konflikten innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben wurden, zum 15. Mal in Folge, auf nun 53,2 Millionen an. Dies ist auf die zunehmende Gewalt in mehreren Ländern zurückzuführen, beispielsweise in Myanmar. Auch der Konflikt in der äthiopischen Region Tigray und anderen Gebieten hat Millionen Menschen zur Flucht innerhalb des Landes veranlasst. Aufstände in der Sahelzone führten zu neuen Binnenvertreibungen, insbesondere in Burkina Faso und im Tschad.

Kinder sind am meisten verwundbar und machen fast die Hälfte der Vertriebenen – nämlich 36,5 Millionen aus. (Kinder welche durch Klima- und Umweltkatastrophen fliehen mussten – nämlich zusätzliche 7,3 Millionen nur in 2021 - als auch jene welche durch den Krieg in der Ukraine in 2022 vertrieben wurden (2 Millionen Flüchtlingskinder, 3 Millionen Binnenvertriebene) sind hier nicht miteingerechnet.) 13,7 Millionen sind Flüchtlinge und asylsuchende Kinder und knapp 22,8 Millionen Kinder sind Binnenvertriebene. Über ein Drittel lebt in Subsahara Afrika (3,9 Millionen), ein Viertel in Europa und Zentralasien (2,6 Millionen) und 13 Prozent (1,4 Millionen) im Mittleren Osten und Nordafrika. 

Flüchtlingskinder sind mehrfachen Gefahren ausgesetzt, wie Missbrauch, Vernachlässigung, Ausbeutung, Schutzlosigkeit in Flüchtlingshaftanstalten, Menschenhandel oder Rekrutierung durch das Militär. Kinder machen rund 34 Prozent der weltweit bestätigten Fälle von Menschenhandel aus.  Ausserdem begegnet ihnen in den Transit- und Zielländern häufig Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Viele minderjährige Kinder werden auf der Flucht von ihren Eltern getrennt und oft wird ihnen auch der Zugang zu Bildung verwehrt.

Henrietta Fore, UNICEF Executive Director

«Diese jungen Leben brauchen unsere Unterstützung - ob in ihrem Herkunftsland, auf der Durchreise, bei der Ankunft am Zielort oder bei der Rückkehr.» 

Henrietta Fore, UNICEF-Exekutivdirektorin bis 2021, im Mai 2021

Die Ursachen für Migration und Flucht sind vielfältig

  • Kriege: Eines von sechs Kindern lebt heute in einem Konflikt- oder Katastrophengebiet. 13,7 Millionen Kinder gelten als Flüchtlinge oder Asylsuchende und 22,8 Millionen Kinder wurden bisher durch gewalttätige Konflikte innerhalb ihres Landes vertrieben. Syrien, Jemen, die Tigray-Region, Niger und Myanmar sind nur einige Beispiele.
  • Naturkatastrophen: Wetterereignisse und Naturkatastrophen nehmen zu. Etwa eine Milliarde Kinder sind durch die Auswirkungen der Klimakrise extrem gefährdet. Diese Kinder sind mehrfachen Klimaschocks ausgesetzt, die mit einer unzureichenden Grundversorgung wie Wasser, Abwasserentsorgung und Gesundheitsversorgung einhergehen.
  • Armut:  Millionen Kinder leiden unter extremer Armut. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, denn Armut verhindert Bildung, Bildung aber verhindert Armut. Als Folge der Covid-19-Pandemie werden noch mehr Menschen von Armut betroffen sein. 

Schicksale von Kindern auf der Flucht

Der mittlerweile elfjährige Krieg in Syrien stiehlt einer ganzen Generation Kinder ihre Kindheit. Mindestens 6,5 Millionen syrische Kinder in- und ausserhalb des Landes sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.  

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8. Juni 2020: Der damals 7-Jährige nimmt an psychosozialen Gruppenaktivitäten teil, die von einem von UNICEF unterstützten mobilen Team in Nashabiya, Ost-Ghouta, durchgeführt werden.

«In einem Wimpernschlag wurde das Leben zur Hölle», sagt Mahasen, eine Grundschullehrerin und Mutter von fünf Kindern. Im Jahr 2013 flohen Mahasen, ihr inzwischen verstorbener Mann und ihre Kinder vor der eskalierenden Gewalt in ihrer Heimatstadt Nashabiya nach Hamoriya, einer damals sicheren Nachbarsstadt.

Damals konnte sie nicht ahnen, dass sich die Dinge bald ändern sollten. 2018 wurde Hamoriya ebenfalls Zielscheibe anhaltender Gewalt. «Wir versteckten uns im Keller vor den Kämpfen, bis eines Tages der Beschuss so heftig war, dass er unser unterirdisches Versteck erreichte», erklärt Mahasen. Das war der Tag, an dem ihr Mann starb und sie schwanger und mit vier Kindern zurückliess. «Nachdem die Granate eingeschlagen war, brachte ich zwei der Kinder, Islam und Safa, in Sicherheit», sagt Mahasen. «Ich wusste nicht, wo meine anderen beiden - Omar und Marwa – waren, oder ob sie noch lebten. Ich konnte sie nicht finden.»

Sobald der Beschuss nachliess, ging Mahasen mit Hilfe ihrer Nachbarin zurück in den Keller, um Omar und Marwa zu retten; sie fand sie schreiend unter den Trümmern. Nach ihrer Rettung floh die Mutter mit ihren Kindern erneut nach Damaskus. 
«Nach dem Vorfall verstummte Omar», führt die Mutter aus. «Er wurde immer introvertierter und entwickelte häufige Wutanfälle, die manchmal dazu führten, dass er seinen Kopf gegen die Wand schlug.»

Als Mahasen hörte, dass ein von UNICEF unterstütztes Kinderschutzteam konfliktbetroffene Gebiete besucht, darunter auch Nashabiya, nahm sie Omar mit, um zu sehen, ob das Team helfen könne. Omar wurde sofort einem Fallmanager zugewiesen, der ihm dabei half, seine Ängste und sein Trauma zu überwinden.  

«Die Unterstützung hat ihm sehr geholfen. Er hat seine Sprache wiedergefunden, ist viel sozialer geworden und seine Ausbrüche sind weniger häufig geworden», sagt Mahasen dazu.

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V.l.n.r.: Omar, 7, Safa, 10, Hala, 18 Monate, Marwa, 8 und Islam, 14.
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8. Juni 2020: Der damals 7-Jährige nimmt an psychosozialen Gruppenaktivitäten teil, die von einem von UNICEF unterstützten mobilen Team in Nashabiya, Ost-Ghouta, durchgeführt werden.

Anastasia, 24, und Igor, 35, sind mit ihrer Mutter und ihren beiden Söhnen David, 1, und Elijah, 3, vor den Angriffen in Berdjansk geflohen. Sie brauchten fast drei Tage, um die 100 km von ihrer Heimatstadt Mariupol nach Lviv zu gelangen. Jetzt suchen sie bei Igors Verwandten in der Region Frankivsk in der Westukraine nach einem sicheren Ort. Anastasia und ihre Familie gehören zu den mindestens 6,5 Millionen Menschen, die Schätzungen zufolge in der Ukraine vertrieben wurden. 

Ukraine 2022

«Zunächst war es in der Stadt ruhig, doch dann begannen die Angriffe in unserer Stadt und den umliegenden Dörfern. Die Banken arbeiteten nicht mehr, Lebensmittel und Medikamente wurden knapp, die Geschäfte schlossen, die Kommunikation brach ab, und wir mussten von dort verschwinden. Ich bin stolz auf meine Kinder; die Reise war nicht einfach, weil sie uns keine Busse zur Evakuierung zuliessen. Trotz allem sind wir hier alle zusammen, gesund und munter», sagt Anastasia und küsst ihren Sohn David an den Türen des Zuges, der sie nach Süden bringt, auf die Wange.

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Aliou wird mit dem MUAC-Massband (Children’s Mid Upper Arm Circumfence- Massband) auf Mangelernährung und die Fortschritte seiner Behandlung im Flüchtlingscamp Dosseye kontrolliert. Die Krankenschwestern nehmen die Parameter der Kinder (Armumfang, Größe und Gewicht) auf und tragen sie auf individuellen Karten ein. Gleichzeitig werden die Kinder mit Hilfe einer angereicherten Erdnusspaste (RUTF – ready to use therapeutic food) auf ihren Appetit getestet. Bei dem Appetit-Test wird jedem Kind eine Packung Erdnusspaste gegeben und beobachtet, wie viel es isst.

In der zentralen Sahelzone sind Flüchtlingskinder besonders dramatischen Erlebnissen ausgesetzt. Die Angriffe auf Kinder nehmen in den Ländern Burkina Faso, Mali und Niger immer weiter zu. Allein in diesen Regionen sind 2.5 Millionen Menschen auf der Flucht. Knapp die Hälfte von ihnen sind Kinder. Viele von ihnen sind akut mangelernährt. Das heisst, Aliou erhält zu wenig und zu einseitige Nahrung.

Auch der 16 Monate alte Junge Aliou ist aufgrund der Strapazen der Flucht mangelernährt.  Im Flüchtlingszentrum Dosseye, im Süden Tschads erhält er die dringend benötigte Hilfe. Das am 11. Dezember 2006 errichtete Camp beherbergt mittlerweile über 16 000 Menschen. Es ist eines von drei Lagern in Goré, in denen hauptsächlich Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik untergebracht sind, die durch die politischen Unruhen in ihrem Land vertrieben wurden.

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Mütter werden in Dosseye, im Süden des Tschad, über Mangelernährung und gute Ernährung für Babys und Kleinkinder aufgeklärt. Die Aufklärung erfolgt in den lokalen Sprachen (Fulfulde, Sango und Kaba).

So hilft UNICEF Kindern auf der Flucht

Endlich wieder Kind sein und an einem sicheren Ort spielen und lernen dürfen – für Flüchtlingskinder ist das nicht selbstverständlich. Viele Kinder mit Fluchterfahrung sind stark traumatisiert. Besonders unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind auf Hilfe angewiesen. Für UNICEF hat der Schutz der Kinder auf der Flucht oberste Priorität und arbeitet auf der ganzen Welt, um die Rechte von Migranten und Flüchtlingen in über 126 Ländern zu schützen.

  • Wir leisten Hilfe für Flüchtlingskinder vor Ort in den Krisenregionen und in den umliegenden Ländern.
  • In Notsituationen ist UNICEF als eine der ersten Organisationen vor Ort und liefert wichtige Hilfsgüter, bietet psychosoziale Betreuung und setzt sich dafür ein, dass die Kinder so rasch wie möglich zurück in die Normalität finden.
  • In von UNICEF eingerichteten kinderfreundlichen Zonen in den Flüchtlingslagern erhalten sie psychosoziale Unterstützung, um ihre Traumata zu verarbeiten und endlich wieder Kind sein zu können. Mütter können sich hier in einem geschützten Umfeld um ihre Neugeborenen kümmern. Zusätzlich werden hier getrennte Familien wieder zusammengeführt.
  • UNICEF setzt sich langfristig dafür ein, dass alle Regierungen kinderrechtskonforme, dauerhafte Lösungen finden, sodass Mädchen und Buben wieder Kind sein können und trotz schwierigen Bedingungen eine Zukunft haben.
     

Im Jahr 2021 hat UNICEF

  • 2.3 Millionen Kinder auf der Flucht in 74 Ländern mit Schutzdiensten erreicht;
  • 12 Millionen Kindern, Betreuern und Eltern psychosoziale Unterstützung gewährt;
  • 6,4 Millionen Kindern auf der Flucht Zugang zu Bildung ermöglicht;
  • und 18,1 Millionen Kinder in Notfällen mit Lernmaterial ausgestattet.
     

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