Ein Weckruf zur Umgestaltung der Ernährungssysteme

Saskia Kobelt
Saskia Kobelt

Das Welternährungssystem ist in Schieflage geraten. Obgleich weltweit so viele Nahrungsmittel wie nie zuvor produziert werden, kann sich mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung keine gesunde Ernährung leisten. Als Folge davon ist einer von zehn Menschen unterernährt und einer von vier übergewichtig. Der UN-Gipfel für neue Ernährungssysteme am 23. September 2021 bietet eine historische Gelegenheit für einen notwendigen Wandel.

©UNICEF/UNO407026/Mosambik 2021

Eigentlich hätte jeder Mensch auf dieser Welt täglich 2800 Kilokalorien zur Verfügung. Ebenso wäre die Verfügbarkeit von Eiweiss und anderen Nährstoffen ausreichend für alle. Doch: Von den ungefähr 7,89 Milliarden Menschen auf der Erde leiden rund 700 Millionen Menschen an Hunger. In den letzten Jahrzehnten haben Veränderungen in unseren globalen Lebensmittelsystemen – einschliesslich der Praktiken für Anbau, Verteilung, Vermarktung, Verzehr und Entsorgung unserer Lebensmittel – dazu geführt, dass die nahrhaftesten und sichersten Lebensmittel für Millionen von Familien zu teuer oder unzugänglich geworden sind. Sie müssen deshalb Hunger leiden oder auf verarbeitete, erschwingliche und verfügbare Lebensmittel, zurückgreifen.

©UNICEF/UNO209814/Kasachstan 2019

Weltweiter Anstieg an Hunger leidenden Menschen

Gleichzeitig wird die globale Lebensmittelversorgung durch Überschwemmungen, Dürren und Kriege gefährdet. Aufgrund der Folgen der Covid-19-Pandemie und der Zunahme bewaffneter Konflikte ist die Zahl der hungernden Menschen im Jahr 2020 um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Gemäss Daten der UN und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), steht die Welt vor einer Ernährungskrise von einem Ausmass, wie es sie seit 50 Jahren nicht mehr gegeben hat. Zu den fast 700 Millionen hungerleidenden Menschen könnten bis Ende 2021 zwischen 83 und 132 Millionen weitere hinzukommen.

UN World Food Programme/ Hungermap 2020

Kinder als Leidtragende der Ernährungskrise

Schon vor der Pandemie waren Kinder die Hauptleidtragenden von nicht funktionierenden Lebensmittelsystemen und schlechter Ernährung, was weltweit zu einer alarmierenden Ernährungs- und Gesundheitskrise geführt hat: Weltweit leidet eines von drei Kindern aufgrund von Unterernährung an Wachstumsstörungen. Dieser Wert ist seit über 11 Jahren unverändert tief. Die Hälfte aller Kinder unter 2 Jahren hat zudem keine regelmässige Versorgung mit den nährstoffreichsten Lebensmitteln wie Obst und Gemüse sowie Eier, Fisch und Fleisch.
Eine toxische Kombination aus Armut, Ungleichheit, Konflikten, Klimawandel und der Folgen der Covid-19-Pandemie bedroht die Ernährungssysteme und das Wohlbefinden der Kinder, insbesondere derjenigen aus den ärmsten und schwächsten Gemeinschaften.

Kinder

149,2 Mio
unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter

Kinder

45,9 Mio
unter fünf Jahren sind zu dünn für ihr Alter

Kinder

38,9 Mio
unter fünf Jahren sind übergewichtig

* Stand 2020: State of the World Food Insecurity Report 2021. Aufgrund der Folgen der Covid-19-Pandemie werden diese Werte wohl höher liegen. Schätzungen, die kürzlich in Nature Food veröffentlicht wurden und sich auf 118 Länder stützen, zeigen, dass die Pandemie bis zum Jahr 2022 die Zahl der an Auszehrung (wasted) leidenden Kinder um bis zu 13,6 Millionen erhöhen könnte (zwei Drittel dieser Kinder könnten in Südasien und 1,9 Millionen in Afrika südlich der Sahara leben) und zu Produktivitätsverlusten von bis zu 44,3 Milliarden US-Dollar führen könnte - eine Bedrohung für die Zukunft von Kindern und Nationen.

Hungersnot in Madagaskar – ein Vorbote?

Die Folgen dieser Nahrungsmittelkrise sind in vielen Ländern des globalen Südens bereits eingetroffen. Eine ganz dramatische Situation zeigt sich in Madagaskar: Das Land steht kurz davor, die erste klimabedingte Hungerkrise der Welt zu erleben. Nach vier aufeinanderfolgenden Jahren ohne Regen leiden zehntausende Menschen bereits unter Hunger und Ernährungsunsicherheit. Mindestens eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren sind von akuter Mangelernährung bedroht, davon 110 000 lebensbedrohlich. Die Zahl der akut mangelernährten Kinder wird sich bis Ende Jahr wahrscheinlich vervierfachen.

«Es ist dringend notwendig, in die Vorbeugung und Behandlung von Unterernährung bei Kindern zu investieren, um zu verhindern, dass die Situation noch kritischer wird. Indem wir Familien Zugang zu sauberem Wasser verschaffen und unterernährte Kinder mit therapeutischer Nahrung behandeln, können wir Leben retten. Aber wir müssen jetzt handeln.»

Michel Saint-Lot, UNICEF-Vertreter in Madagaskar

Die Dürrejahre haben die Ernten vernichtet und den Menschen den Zugang zu Nahrungsmitteln abgeschnitten. Angesichts der bevorstehenden Jahreszeit, in der die Nahrungsmittelvorräte zur Neige gehen, wird sich die Krise voraussichtlich noch drastisch verschärfen. Mehr als 1,14 Millionen Menschen sind im Süden Madagaskars von Ernährungsunsicherheit betroffen. Die steigenden Preise für bestimmte Grundnahrungsmittel sowie die immer knappere Verfügbarkeit von Lebensmitteln auf den Märkten hat Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit. Darüber hinaus stellen die anhaltenden Beschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie eine zusätzliche Herausforderung dar, da sie den Zugang der Menschen zu Nahrungsmitteln, Märkten und Arbeitsplätzen einschränken. Das Leid der Kinder, Mütter und Väter Madagaskars ist unvorstellbar. Das Land ist dringend auf unsere Solidarität und unser Handeln angewiesen. Die Hungerkrise in Madagaskar steht als Vorbote dafür, was wir in den kommenden Jahren in anderen Gebieten unseres Planeten befürchten müssen. Ein globaler Wandel unserer Ernährungssysteme ist dringender denn je.

©UNICEF/UNO496488/Madagaskar 2021

Umgestaltung der Lebensmittelsysteme: UN World Food Summit

Lebensmittelsysteme beschreiben die miteinander verbundenen Aktivitäten, welche die Produktion, die Verarbeitung, den Transport und den Verbrauch von Nahrungsmittel umfassen. Um auf die weltweite Ernährungskrise zu reagieren, haben die Vereinten Nationen den UN World Food Summit einberufen. So vielfältig wie die Ursachen für schlechte Ernährung sind, so vielfältig sind auch die Lösungen. Um jedem Kind eine nährstoffreiche, sichere und erschwingliche Ernährung zu ermöglichen, müssen Regierungen, Geber, zivilgesellschaftliche Organisationen und Entwicklungsakteure Hand in Hand arbeiten, um die Ernährungs-, Gesundheits- und Sozialschutzsysteme zu verändern. Denn kein Land verfügt über ein umfassendes Paket von Massnahmen und Programmen zur Verbesserung der Ernährung von Kleinkindern, und die Länder auf der ganzen Welt verpassen wichtige Möglichkeiten, nahrhafte Lebensmittel verfügbar und erschwinglich zu machen. Der bevorstehende Gipfel will die Voraussetzungen für eine globale Transformation der Ernährungssysteme schaffen, um die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) bis 2030 zu erreichen. Als erst sechster UN- Gipfel zum Thema Ernährung seit 1943 und der erste mit Staatsoberhäuptern in der UN- Generalversammlung erhofft man sich vom Gipfel eine verstärkte Zusammenarbeit um die Krise gemeinsam zu bewältigen. Der UN-Gipfel für Ernährungssysteme bietet eine historische Gelegenheit, die Agenda dafür festzulegen, wie die Weltgemeinschaft die Ernährungssysteme stärken und eine gesunde Ernährung fördern, als auch die Ernährung – insbesondere von Kindern und Jugendlichen – verbessern kann.

Für mehr Informationen zum World Food Summit: https://www.un.org/food-systems-summit

©UNICEF/UN0409855/Indonesien 2020

Was UNICEF und die WHO fordern

Eine Umgestaltung des Ernährungssystems, die den Stimmen von Kindern und Jugendlichen Gehör schenkt und eine nährstoffreiche, sichere, erschwingliche und nachhaltige Ernährung für alle Kinder überall ermöglicht, sollte im Mittelpunkt von Strategien, Massnahmen und Investitionen stehen. Nur so können wir die Qualität, die Sicherheit und die Erschwinglichkeit der Lebensmittel verbessern, zu denen Kinder und Jugendliche Zugang haben, sowie die Umwelt, in der sie wachsen, lernen, spielen und essen, und die Nachhaltigkeit des Planeten, auf dem sie leben. UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordern deshalb Regierungen und Entscheidungsträger dazu auf, wirksame Ansätze wie folgt zu verstärken:

  1. Faire Preispolitik
    Anreize für eine gesunde Ernährung durch Preispolitik schaffen, einschliesslich Subventionen zur Senkung der Preise für nahrhafte Lebensmittel wie Eier, Milchprodukte, Obst, Gemüse und Vollkornprodukte; ungesunde Lebensmittel besteuern zwecks deren Verteuerung.
     
  2. Gesunde Grundnahrungsmittel
    Verbesserung des Nährwerts von Lebensmitteln durch die obligatorische Anreicherung von Grundnahrungsmitteln mit essentiellen Mikronährstoffen; Reduzierung von Natrium und Zucker und die Beseitigung von industriell hergestellten Transfetten in verarbeiteten Lebensmitteln.
     
  3. Miteinbezug öffentlicher Dienste
    Nutzung der öffentlichen Beschaffung von Lebensmitteln als Hebel zur Förderung einer gesunden Ernährung und zur Unterstützung nachhaltiger Lebensmittelsysteme, z. B. in Schulen, am Arbeitsplatz, in Krankenhäusern und bei Sozialschutzprogrammen.
     
  4. Verstärkte Regulierung ungesunder Lebensmittel
    Schutz der Kinder vor den schädlichen Auswirkungen der Vermarktung ungesunder Lebensmittel und Getränke durch verstärkte Regulierungsmassnahmen.
     
  5. Förderung gesunder Ernährung für Mütter
    Schutz und Unterstützung von Müttern und Betreuungspersonen, damit sie ihre Babys optimal stillen können, einschliesslich Mutterschutz und Elternurlaub; Umsetzung des Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten. (Für mehr Informationen: https://www.afs-stillen.de/fuer-fachpersonal/who-kodex/)
     
  6. Weltweite Einführung von Richtlinien zur Nährwertkennzeichnung
    Einführung verbindlicher, leicht verständlicher Richtlinien und Praktiken zur Nährwertkennzeichnung, um Kindern und Familien zu helfen, mit den richtigen Informationen gesündere Entscheidungen zu treffen.
     
  7. Verstärkte Kommunikation für gesunde Ernährung
    Unterstützung gesunder Ernährungs- und Diätpraktiken durch die Lebensmittel-, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialschutzsysteme mit leicht verständlichen, kohärenten und einprägsamen Kommunikationsstrategien.

Die gute Nachricht ist, dass die Weltgemeinschaft eigentlich das nötige Rüstzeug und Wissen zur Verfügung hat, um Hunger und Mangelernährung weltweit zu beenden. Die hier aufgeführten sieben Beispiele stehen dafür exemplarisch für weitere gute und innovative Lösungsansätze. Ob wir diese umsetzen und die Chance für einen Wandel der Lebensmittelsysteme wahrnehmen ist eine andere Frage: Positive Veränderungen bei der Ernährung von Kindern in grossem Massstab können Realität werden, wenn die Länder gemeinsam handeln, unterstützt durch bessere Daten und Kenntnisse. Mit Investitionen und Zusammenarbeit auf globaler und nationaler Ebene können wir diese Lösungen in grossem Massstab umsetzen.

 

©UNICEF/UN0211353/Ruanda 2019