Am Osterwochenende hat sich viel Frustration entladen. Nach den Krawallen in St. Gallen schwankt die Schweiz zwischen Unverständnis und Solidarität mit den Jugendlichen. Eines ist klar: Jugendliche müssen mehr in die Corona-Politik eingebunden werden.
Jugendliche spielten im bisherigen Diskurs um die Corona-Auswirkungen eine untergeordnete Rolle. Sie sind gesundheitlich weniger gefährdet, profitieren also auch unterdurchschnittlich von den Schutzmassnahmen im Vergleich zu den Erwachsenen. Gleichzeitig sind sie jedoch überdurchschnittlich stark von denselben betroffen. Das sorgt für Unmut unter den Jugendlichen und birgt grossen sozialen Zündstoff, der sich am Osterwochenende in St. Gallen zum Teil entladen hat. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Geschehen mitverfolgt. Die Aktionen der Jugendlichen stiessen grösstenteils auf Unverständnis. Gewaltakte und Vandalismus sind zu verurteilen. Das ist keine Frage. Das Dilemma zwischen Verzicht und wichtigen Entwicklungsschritten ins Erwachsenenleben bleibt. Es braucht Antworten. Dafür müssen wir auf die Jugendlichen zugehen und sie in ihrer Lebenswelt, mit ihren Herausforderungen, Ängsten und Bedürfnissen abholen.
Soziale Isolation, Langeweile, Zukunftsängste oder der fehlende Raum, um auszubrechen und eigene Erfahrungen zu machen, sind einige der Gründe, welche zu Frust und Verzweiflung führen können. Die Jugend ist eine Transformationsphase und von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der eigenen Identität. Jugendliche befinden sich in der Selbstfindung, suchen nach einem Platz in der Gesellschaft sowie nach der eigenen sozialen Rolle. Dieser Identitätsbildungsprozess geht mit vielen emotionalen, körperlichen und intellektuellen Veränderungen einher (Quelle: Institut für Psychologie (2006): "Mein Selbst und ich - darf ich vorstellen?": Identitätsentwicklung im Jugendalter. Band 2. Hildesheim: Universitätsverlag.). Der Übergang von der Regelschule in die Berufsbildung oder in weiterführende Schulen, ein Lehrabschluss oder die Matura stehen kurz bevor. Die Ablösung von den Eltern und der Fokus auf die Peer-Gruppe sind im vollen Gange. Und oben drauf befinden sich Körper und Geist in einem wichtigen Entwicklungsprozess, der verarbeitet und bewältigt werden muss. Ein Jahr mit Einschränkungen im aktuellen Ausmass bedeutet für Jugendliche eine Ewigkeit. Diese Empfindungen stehen ganz im Gegensatz zu unserem Empfinden als Erwachsene. Dieses psychische Ungleichgewicht aber auch die bestehende alltägliche Einseitigkeit sind insbesondere für Jugendliche, ein hoher Belastungsfaktor, den es zu kompensieren gilt (Quelle: Eckert, M., Tarnowski, T. Merten, L. (2019): Stress- und Emotionsregulation für Jugendliche. Weinheim Basel: Beltz.).
Bereits jetzt können wir erste Auswirkungen beobachten, die auf die Pandemie und die ergriffenen Massnahmen zurückzuführen sind. Die psychische Gesundheit von Jugendlichen ist besorgniserregend und verlangt unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ist hinlänglich bekannt, dass Krisen Ungleichheiten in gesellschaftlichen Strukturen verstärken. Diese Tendenz zeigt sich bereits jetzt in den Bereichen der materiellen Armut aber auch bei den Bildungschancen. Weitere Auswirkungen der Pandemie werden sich erst in einigen Jahren zeigen und messbar sein.
Wenn wir jetzt nicht reagieren, Jugendlichen zuhören und Folgen der Pandemie jenseits der akuten Corona-Infektionen auf dem Radar haben, wird die Gemeinschaft mittelfristig mit noch grösseren Herausforderungen konfrontiert sein. Jugendliche haben grosse Solidarität bewiesen, sie haben ihre Interessen hinten angestellt, Massnahmen mitgetragen und grossen Durchhaltewillen gezeigt. Es ist an der Zeit, dass wir ihnen, ihren Forderungen, Sorgen und Ängsten Platz einräumen. Kinder und Jugendliche haben ein in der Kinderrechtskonvention verbrieftes Recht auf Gesundheit, Entwicklung, Information sowie Partizipation. Es liegt an den Erwachsenen aber auch an den staatlichen Akteuren dafür zu sorgen, diese Rechte auch umzusetzen.
Der primäre Fokus in der Massnahmenplanung liegt seit Beginn der Pandemie auf der physischen Gesundheit der Gesamtbevölkerung und der monetären Absicherung der Erwerbstätigen und Unternehmen. Angesichts der Unberechenbarkeit des Virus und der Überlastung des Gesundheitssystems ist vor allem ersteres nachvollziehbar und sinnvoll.
In Bezug auf die Corona-Hilfen, aber auch mittelfristig betrachtet, greift dieser Fokus aber zu kurz. Kinder und Jugendliche mit ihren in der Kinderrechtskonvention stipulierten Rechten geraten damit ins Hintertreffen. Wir müssen uns als Gesellschaft gut überlegen, welche Priorität wir ihnen beimessen und wie wir die Folgen auf ihre Entwicklung auffangen können. Um das Recht auf Gesundheit und Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, braucht es eine breit angelegte Debatte darüber, was man Jugendlichen an Freiheiten eingestehen kann, ohne dabei die ältere Bevölkerung zu gefährden. Gleichzeitig müssen auch Kinder und Jugendliche in den monetären Hilfspaketen berücksichtigt werden: Ausbau der psychosozialen Versorgung, finanzielle Hilfen für Studierende, soziale Sicherung der Familien, damit nicht noch mehr in die Armutsfalle geraten, Aufrüstung der Schulen mit digitalen Medien, das Schliessen der vor einem Jahr entstandenen Bildungslücken und die Sicherung von Ausbildungsplätzen. Mit einem konsequenten Einbezug der Kinder und Jugendlichen in die Massnahmenplanung, mit einer kinder- und jugendgerechten Information zur Pandemie und durch die Befragung zu ihrer Situation können wir zudem das Recht auf Partizipation und Information umsetzen und die Akzeptanz getroffener Massnahmen erhöhen.
Die Umsetzung der Kinderrechtskonvention bedeutet nicht, dass Jugendliche wieder ausgelassen feiern dürfen, der Festivalsommer stattfinden kann und die Hygienevorschriften für sie nicht gelten. Würde man die Jugendlichen fragen, sie in die Massnahmenplanung einbinden und ihnen zuhören, so würden das wohl auch die Wenigsten einfordern. Aber sie sollen nicht nur Umsetzerin und Umsetzer, sondern Teil der Lösungsfindung sein. Als Gesellschaft müssen wir alle Altersgruppen und deren Gesundheit im Blick haben. In Bezug auf Kinder und Jugendliche gelingt das nur, wenn wir sie als Rechtssubjekte wahrnehmen und anerkennen und sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache befragen und einbeziehen. Wir müssen uns angewöhnen, von Anfang an mit und nicht über Kinder und Jugendliche zu sprechen. Und zwar in allen Lebensbereichen und auf allen staatlichen Ebenen. Nur so können wir als Gesellschaft ihre in der Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Rechte bewahren und umsetzen.